Die kleine Seejungfrau (Hans-Christian Andersen)
Wenn man weit aufs Meer hinaus fährt, scheint einem das Wasser so blau wie die Blüte einer herrlichen Kornblume und so durchsichtig wie ein Diamant, aber hier ist es sehr, sehr tief, so tief, dass kein Senkblei bis zu seinem Grunde reicht, und wollte man es messen, so müsste man Kirchtürme über Kirchtürme schichten, um seine Tiefe zu erfahren. Da unten hausen die Seebewohner.
Es wäre falsch, anzunehmen, dass es dort nichts weiter gibt als Sand. Nein aus dem Böden sprießen die absonderlichsten Gewächse: Blumen, Bäume und andere Pflanzen, deren Äste und Blätter so federleicht sind, dass sie bei der leisesten Bewegung der Wellen hin und her schwanken. Zwischen dem Geäst tummeln sich Fische jeder Größe, beinahe so, wie auf der Erde die Vögel in den Zweigen. Wo die See am tiefsten ist, steht der Palast des Meerfürsten, ganz aus roten Korallen erbaut. Das Dach ist nicht mit Ziegeln, sondern mit schimmernden Muscheln gedeckt. Streicht das Wasser über sie hin, so klappen sie auf und zu. Das sieht wundervoll aus, weil in jeder einzelnen Schale große, matt glänzende Perlen liegen, die einer Kaiserkrone zur Zierde gereichen würden.
Der Meerfürst hatte schon vor langen Jahren seine Gemahlin verloren, weshalb die Mutter des Königs seinem Hause vorstand und nach dem Rechten sah. Sie war zwar mächtig adelsstolz, sonst aber eine gescheite Frau; als Zeichen ihrer hohen Würde schmückte sie sich mit zwölf Austern. Alle, die im Rang unter ihr standen, durften nur halb so viele tragen. Im übrigen konnte man ihr nur Gutes nachsagen, und ganz besonders verdient machte sie sich um ihre Enkelkinder, die sie sehr liebte: sechs reizende Mädchen. Das jüngste von ihnen übertraf jedoch ihre Schwestern bei weitem an Schönheit. Betrachtete man ihre Haut, so musste man unwillkürlich an ein Rosenblatt denken. Das Hübscheste aber waren ihre Augen. Sie strahlten in derselben tiefblauen Farbe, die das Meer zuweilen annimmt. Abgesehen davon unterschied sie sich nicht von den anderen Prinzessinnen auch sie hatte an Stelle der Beine eine Flosse.
Tagaus, tagein vergnügten sich die Geschwister in den prächtigen Sälen des Palastes, aus dessen Wänden Blumen sprossen. Die Fensterflügel standen weit offen, so dass die Fische herankommen konnten, wie wir den Vögeln Gelegenheit geben, zu uns hereinzuflattern - nur mit dem Unterschied, dass die Fische viel weniger scheu waren als die gefiederten Sänger. Sie schwammen zutraulich um die Mädchen herum und ließen sich haschen, liebkosen und füttern. Die Königsburg stand in einem weitläufigen Park, der von bunten Bäumen bestanden war. Die Blüten, die er trug, prangten teils rosenrot, teils lila, und verwandelten sich schließlich in goldfarbene Früchte. Die Strömung wiegte ständig Zweige und Blätter hin und her, und alle Pflanzen wurzelten in blauem Sand, der so stark strahlte, dass auf alles sein Abglanz fiel. Es war, als erblicke man das Firmament gleichzeitig hoch oben und tief unten. War das Meer glatt, so konnte man die Sonne sehen, die von hier aus wie ein Purpurbecher wirkte, dem Ströme von Licht entquollen.
Die Prinzessinnen besaßen im Park kleine Rabatten, an denen sie ihre Lieblingsblumen ziehen konnten. Jedes der Beete hatte eine andere Gestalt. Die älteste hatte dem Stückchen Erde, das ihr gehörte, den Umriss eines Haifisches gegeben, die zweite die Form eines Nachens, die jüngste Schwester aber mühte sich, ihr Beet der Sonne ähnlich zu machen, indem sie es kreisrund anlegte und darin Blumen pflanzte, rot glühend wie das Tagesgestirn. Die kleine Seejungfrau war ein merkwürdiges Ding, scheu und in sich gekehrt. Schmückten sich die anderen Mädchen mit all dem fremdartigen Zeug, das von Seglern herrührte, die Schiffbruch erlitten hatten, so stand sie teilnahmslos daneben und verlangte für sich nichts als die Marmorfigur eines schönen Knaben, die nach einem Sturm mit anderen Kostbarkeiten in die Tiefe gesunken war. Das Kind pflanzte rund um den Sockel ihre roten Lieblingsblumen, die schnell emporschossen, so dass es bald aussah, als stände die Statue inmitten eines Flammenmeers.
Für die Kleine gab es nichts Schöneres, als sich von den Erdenbewohnern erzählen zu lassen, die da oben, hoch über ihrer 'Welt, lebten. Immer wieder musste die Großmutter ihr alles sagen, was sie von ihren Gewohnheiten, ihren Sitten und Gebräuchen wusste. Es schien der Prinzessin höchst sonderbar, dass die Blumen dort oben einen wunderbaren Geruch ausströmen sollten, denn hier war das nicht der Fall. Am allermeisten aber erstaunte es sie, zu hören, dass es Fische gab, die in den Kronen der Bäume sitzen und süße Lieder zwitscherten sie Vögel-. zu nennen, hatte die alte Frau unterlassen, weil ihre Enkelkinder sonst nicht verstanden haben würden, um was es sich handelte, denn solch ein gefiedertes Wesen war ihnen ja noch niemals vor Augen gekommen. "An eurem fünfzehnten Geburtstag dürft ihr zu den Menschen emporsteigen", erklärte die Großmutter immerfort. Dann könnt ihr auf den Riffen sitzen, die Schiffe betrachten, welche von Weltteil zu Weltteil fahren, und alles andere, von dem ich euch erzählt habe."
Im darauf folgenden Jahr war es so weit, dass die älteste Schwester aus dem Wasser auftauchen durfte. Die anderen mussten noch Geduld haben. Sie waren immer ein Jahr auseinander, so dass die kleinste noch fünf Jahre warten musste, bis der Tag kam, den sie nicht müde wurde, sich auszumalen.
Inzwischen versprachen sich die Mädchen, einander alles haarklein zu schildern, was ihnen im Reich der Menschen widerfahren werde, denn sie zweifelten nicht, dass die Großmutter vieles, das sie brennend gern zu wissen wünschten, verschwiegen hatte. Gerade die jüngste, die noch am längsten warten musste, sehnte mehr als alle anderen ihren fünfzehnten Geburtstag herbei. Nächtelang starrte sie durch die Fluten zur Erde empor. Das Licht der Sterne, das zu ihr herab drang, gab den Fischen, die als glitzernde Lebewesen hin und her schossen, ein gespenstisches Aussehen. Zog dann ein schwarzer Schatten vorüber, so erriet sie, dass dies ein Schiff sein musste, das viele der Geschöpfe barg, die zu erblicken ihr höchster Wunsch war. Sicher kam es keinem von ihnen in den Sinn, dass sich tief unter dem Rumpf des Fahrzeugs eine Welt befand, in der eine kleine Seejungfrau dem Tag entgegenharrte, an dem es ihr vergönnt sein werde, die Wunder zu sehen, die sie dort oben ahnte.
Als die älteste Königstochter von ihrem Besuch auf Erden heimkehrte, wurde sie gar nicht fertig, all die eigenartigen Dinge zu beschreiben, die ihr aufgefallen waren. Sie hatte den ganzen Tag auf einer sonnenbeglänzten Klippe gelegen und von dort aus Männer beobachtet, die über Felder schritten und irgendetwas in die Erde streuten. Sie hatte einen Blick in Gärten getan, in denen Frauen, die reizende Kleider trugen, mit Herren, die prächtig anzuschauen waren, auf und ab spazierten. Sie hatte Musik gehört und das melodische Läuten der Glocken, die in Türmen hin und her schwangen, deren Spitzen fast in den Himmel ragten. Am schönsten aber war ihr der Abend erschienen, als unzählige Lichtlein mit dem Flimmern der Sterne wetteiferten. Kurz: nach ihren Schilderungen musste man glauben, die Erde sei ein wahres Paradies.
Die kleine Schwester, die atemlos zuhörte, wurde ganz krank vor Verlangen, auch schon dort hinaufsteigen und all die Herrlichkeiten sehen zu dürfen. 'Wenn sie dann nachts wieder am Fenster stand und durch die Fluten empor starrte, kreisten ihre Gedanken unablässig um die Dinge, von denen ihre Schwester gesprochen hatte, und sie strengte alle Sinne an, um etwas von der Musik, dem Glockenläuten, den Geräuschen, die die Luft da oben erfüllen sollten, zu vernehmen.
Als wieder ein Jahr um war, kam die zweite Schwester an die Reihe, die Wasserwelt zu verlassen und der Gegend, in der die Menschen wohnen, einen Besuch abzustatten. Von allem, was sie gesehen hatte, war ihr nichts so schön erschienen als die rot glühende Himmelskuppel im Augenblick, in dem die Sonne ins Meer gesunken war. Die Wolken aber, von denen eine wie ein Wal, eine andere wie eine ungeheure Alge, eine dritte wie ein Korallenfelsen ausgesehen hatten - alle dahinstürmend, von unsichtbarer Hand vorwärtsgetrieben - das war ein Anblick gewesen, der sie förmlich überwältigte. Und damit nicht genug, war mit einmal eine Schar wilder Schwäne durch die Luft gezogen, der Sonne entgegen, deren Strahlen ihr weißes Gefieder trafen, so dass die mächtigen Vögel wie rosiger Nebel unter dem blauen Himmelszelt dahinschwebten.
Nun war es an der dritten Schwester, aufzutauchen. Sie war mutiger als die übrigen Prinzessinnen und wagte sich daher in einen Strom, an dessen Ufern Städte und Dörfer lagen. Sie sah Straßenzüge, durch die Gefährte rollten, von nie geschauten Vierfüßlern gezogen. Sie sah Paläste von ungeahnter Pracht und Bauernhöfe, die in das satte Grün der Wälder eingebettet waren. Jeden Vogellaut nahm sie begierig in sich auf und wurde nicht müde, dem Zwitschern, Girren und Trillern zu lauschen. Die Sonne brannte so stark, dass sie ihr erhitztes Gesicht immer wieder in den Fluten verstecken musste. An einer seichten Uferstelle erblickte sie kleine Kinder, die splitternackt im Wasser spielten. Sobald sie sich ihnen aber zugesellen wollte, nahmen sie ängstlich Reißaus. Nur ein schwarzes kleines Geschöpf, das abwechselnd die Zähne bleckte und "Wauwau" schrie, blieb zurück. Dass es sich um einen Hund handelte, wusste sie natürlich nicht, da sie ja noch nie einem begegnet war. Der Zorn in seinen Augen machte ihr aber Angst, so dass sie es - trotz ihrer Tapferkeit - für besser hielt, in der Tiefe des Meeres Zuflucht zu suchen. So endete ihr Besuch auf Erden vorzeitig, doch die Erinnerung an die fremdartigen Dinge, die sie dort oben gesehen hatte, erweckte den Wunsch in ihr, der ersten Entdeckungsreise bald eine zweite folgen zu lassen, vor allem, um zu ergründen, wie es möglich war, dass es Lebewesen gab, die Füße hatten und es trotzdem zuwege brachten, sich schwimmend im Wasser zu halten.
Die vierte Prinzessin, weniger tapfer als ihre Vorgängerin, zog es vor, sich den menschlichen Behausungen nicht allzusehr zu nähern. Sie sah Schiffe herankommen, hütete sich aber, von ihnen bemerkt zu werden. Es genügte ihr, sie von ferne bewundern zu dürfen. Am besten gefielen ihr die Delphine, deren lustige Sprünge sie immer wieder zum Lachen brachten, und die Kunst der Wale, Wassersäulen in die Luft empor zuschleudern, dass es aussah, als stiegen ringsumher Springbrunnen aus dem Meer auf.
Nun war auch die zweitjüngste Prinzessin fünfzehn Jahre alt geworden. Da ihr Geburtstag in den Winter fiel, bekam sie Dinge zu Gesicht, die ihre Schwestern nicht hatten sehen können: weiße, schimmernde Kolosse, die durch und durch aus Eis bestanden und vor denen die Schiffe wenn die schwimmenden Inseln in ihren Kurs gerieten eilends das Weite suchten. Manche dieser Riesen wirkten mit ihren Zacken und Türmen wie dahin gleitende Burgen, andere wieder wie umherirrende Felsmassen, die sich von einem Gebirge losgerissen hatten. Die Prinzessin erklomm eines dieser seltsamen Gebilde. Wenn der Sturm ihre schwarzen Locken empor wirbelte, bekreuzten sich die Seeleute, die nicht anders dachten, als dass dort oben der Klabautermann darauf lauere, ihr Fahrzeug in die Tiefe zu reißen.
Als es dunkel wurde, breitete sich schwarzes Gewölk aus, und bald darauf zuckten Blitze nieder, denen schwere Donnerschläge folgten. Das Meer warf haushohe Wellen, auf denen die Eisberge nur so tanzten, sich wie Kreisel drehten und, gleich Bällen, dahin und dorthin geschleudert wurden - der Prinzessin machte das nichts aus. Im Gegenteil. Es bereitete ihr ungeheures Vergnügen, in die Wellentäler zu schauen, den Aufruhr der Elemente zu verfolgen und dem Klagen der Windsbraut zu lauschen. Jubelnd sang die Königstochter vor sich hin, und der Sturm trug ihr Lied davon, weit, weit weg - bis an das Ohr eines jungen Matrosen, der den Tönen wie verzückt lauschte und darüber vergaß, das Steuerrad zu drehen, so dass sein Schiff zerschellte.
Zuweilen tauchten alle fünf Mädchen gleichzeitig auf. Ihre Stimmen klangen lieblicher als die von Menschen. Zog dann ein Unwetter auf, so ließen sie Gesang erschallen und versuchten, den Seeleuten die Angst vor der Meerestiefe zu nehmen, indem sie ihnen erzählten, welch eine wundervolle Welt dort unten ihrer warte. Die Besatzung verstand natürlich nichts von alledem und meinte, das Orgeln des Windes zu hören. Auch hätte ja die Mannschaft im Fall eines Schiffbruchs niemals den Meeresgrund erblickt, denn Tote können nichts sehen.
Schwangen sich die Prinzessinnen Hand in Hand nach oben, so sah ihnen die kleine Seejungfrau, die noch zu jung war, um es ihnen gleichzutun, wehmütig nach. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, Tränen zu vergießen, so wären sie ihr jetzt gewiss aus den Augen gestürzt, doch Meerbewohner können nicht weinen. Deshalb leiden sie auch mehr als Menschen."Oh, wäre es doch schon so weit - - " rief sie immer von neuem. "Ich bin sicher, dass es mir auf Erden besser gefiele als hier unten, und ich alle, die dort oben leben, von ganzem Herzen lieben könnte."
Endlich kam der große Tag. "Jetzt bist auch du erwachsen", meinte die Großmutter und flocht ihrer jüngsten Enkelin Lilien ins Haar, wie sie es früher, als die anderen Prinzessinnen fünfzehn Jahre alt geworden waren, auch mit ihnen getan hatte. Die Lilien waren freilich keine gewöhnlichen Blumen. Jedes ihrer Blütenblätter bestand aus einer halben Perle von der Größe eines Taubeneis, so dass die kleine Seejungfrau eigentlich keinen Kranz, sondern eine Krone auf den Kopf bekam.
Schließlich befestigte die alte Frau acht Austern an der Flosse ihrer Enkelin, als Zeichen der königlichen 'Würde. Es tat ein bisschen weh, so dass die Prinzessin das Gesicht zu einer Grimasse verzog."Au!" rief sie aus. "Ja, mein Kind, Eitelkeit bringt Leiden!" erhielt sie zur Antwort.
Ach, wie gern hätte das Mädchen die Krone abgeworfen und - nur mit ein paar roten Blumen geschmückt - den Weg zur Erde angetreten, doch sie wagte es nicht, an dem Werk der Großmutter etwas zu ändern. "Lebt wohl!" rief sie schon im Entschwinden, während sie davon glitt und federleicht zur Höhe schwebte. Als sie das Köpfchen aus dem Wasser hob, sank eben die Sonne ins Meer. Ihr Widerschein lag noch auf den Wolken, und im klarblauen Himmel flimmerte ein einzelner Stern. Einen Steinwurf weit erblickte sie ein mächtiges Schiff, das leicht auf den Wellen schaukelte. Völlige Windstille hinderte es, seine Reise fortzusetzen. An Bord ging es hoch her. Die Matrosen sangen, und aus dem Inneren der großen Kajüte drangen Musik und Gläserklirren ans Ohr der kleinen Seejungfrau. Vorsichtig näherte sie sich dem Fahrzeug und lugte durch das Bullauge. Sie sah einen Raum, in dem viele festlich gekleidete Leute bei Tisch saßen. Am Kopf der Tafel erblickte sie einen schönen jungen Prinzen, der nicht viel älter sein konnte als sie selbst. Man war gerade dabei, ihn hochleben zu lassen; denn auch er hatte heute Geburtstag.
Nach einer Weile erhob er sich und ging aufs Deck, wo die Mannschaft einen Tanz aufführte. Bei seinem Erscheinen schossen Dutzende von Leuchtkugeln und Feuerwerkskörpern zum Himmel empor und verwandelten die Nacht zum Tage. Zischend sanken die Raketen dann ins Wasser, unmittelbar neben der Prinzessin, die heftig erschrak und blitzschnell unter dem Meeresspiegel verschwand - aber nicht für lange. Bald erschien ihr Kopf wieder über dem Wasser, um das sonderbare Schauspiel weiter zu verfolgen. Das Licht, das die kreisenden Sonnen, die zerplatzenden Feuergarben verbreiteten, ließ sie all und jedes auf dem Schiff mit größter Deutlichkeit erkennen. Immer wieder gingen ihre Blicke zu dem jungen Prinzen, der für jedermann einen Händedruck, ein freundliches Wort hatte - wie sehr wünschte das Meerweibchen seine lächelnden Augen einmal auch auf sich gerichtet zu sehen.
Die Zeit verflog im Nu, doch auch das Erlöschen der Lichter an Bord konnte die Prinzessin nicht bewegen, das Schiff aus den Augen zu lassen. Allmählich erhob sich leichter Wind, der rasch an Stärke zunahm. Aus der Tiefe des Meeres erscholl bedrohliches Grollen, dunkle Wolken ballten sich am Himmel. Ein Ungewitter war im Anzug. Schon erschienen Matrosen, die ins Takelwerk kletterten und alle Segel einholten - keinen Augenblick zu früh, denn schon brach ein Sturm los, der das Fahrzeug wie eine Nussschale hin und her warf. Immer wilder peitschte der Orkan die Wellen, die in mächtigen Brechern das Deck überfluteten, an den Masten rüttelten und das Schiff zu begraben drohten.
In den Augen der kleinen Seejungfrau war das Ganze ein lustiges Spiel, die Matrosen aber dachten anders darüber. Der Segler krachte in allen Fugen, und in der Außenwand klaffte ein Riss. Plötzlich wurde einer der Masten geknickt, wodurch das Schiff Schlagseite bekam. Gleichzeitig ergoss sich eine Sturzsee in den Rumpf des Fahrzeuges. Erst jetzt wurde sich die Prinzessin der Gefahr bewusst, die dem Schiff drohte. Die niederfahrenden Blitze zeigten ihr, welcher Wirrwarr an Bord herrschte. Jeder suchte, zu retten, was zu retten war. Kopflos stürzten alle hin und her. Die kleine Seejungfrau ließ ihre Augen ängstlich umhergehen. Wo mochte der Prinz sein? Schlief er? Ahnte er nichts davon, dass das Schiff in Seenot geraten war? Endlich erblickte sie ihn, und zwar just in dem Augenblick, in dem der Segler mit fürchterlichem Krachen auseinanderbrach. Der junge Mann wurde ins Meer geschleudert, nur ein kleines Stück von der Stelle, an der sie sich befand. Ihre anfängliche Freude, ihn nun mit sich heim nehmen zu können, wich bald der Erkenntnis, dass Menschen ja Luft zum Leben brauchen, und sie ihn also nur als Leiche in ihres Vaters Haus zu bringen vermochte. Nein, das durfte nicht geschehen. Der Tod musste ihm erspart bleiben.
Mit hastigen Stößen erreichte sie ihn, ohne der Schiffstrümmer zu achten, die mit Wucht gegen sie anprallten und ihren zarten Körper verletzten. Der Prinz hatte verzweifelt gegen die Wellen angekämpft - nun verlor er das Bewusstsein und wäre in der nächsten Minute ertrunken, hätte ihn seine Retterin nicht an der Oberfläche gehalten. In dieser Nacht focht die kleine Seejungfrau erbittert mit den entfesselten Naturgewalten und rang der See zuletzt ihr Opfer ab.
Als der Tag erwachte, glättete sich das Meer. Die Morgensonne schien das blasse Gesicht des jungen Mannes zu beleben. Obwohl er immer noch ohne Bewusstsein war, färbten sich seine Wangen rosenrot. Die Prinzessin konnte nicht anders: sie musste ihre Lippen auf die seinen drücken. Dann schob sie ihm die feuchten Locken aus der Stirn. Jetzt erst fiel ihr die Ähnlichkeit auf, die zwischen ihm und der kleinen Marmorstatue bestand, die sie in ihrem Blumenbeet aufgestellt hatte."Wenn er doch zu sich käme..."‚ murmelte sie vor sich hin, "...wenn er mich doch anschauen wollte".
Endlich erblickte sie Land. Nahe dem Ufer erhoben sich blau schimmernde Berge, deren schneebedeckte Gipfel wie weiße Vögel aussahen, die dort oben rasteten. Rauschende Wälder dehnten sich der Küste entlang, und dicht am Meer lag ein lang gestreckter Bau mit vielen, vielen Fenstern. Es war eine Abtei. Aber das wusste sie natürlich nicht. Das Klostertor, das von Palmen umstanden war, befand sich unweit eines kleinen windgeschützten Hafens, den ein Streifen hellen Sandes säumte. Dorthin brachte sie den Ohnmächtigen, bettete ihn liebevoll und zog sich dann zurück, um - hinter einem Riff versteckt - zu verfolgen, was sich nun ereignen werde.
Nach einer Weile bimmelte im Turm des Stiftes eine Glocke. Gleich darauf erschien eine Schar Nonnen im Kreuzgang der Abtei. Einige von ihnen ergingen sich im Klostergarten, andere traten aus dem Tor, und bald hatte eine junge Novize den Schiffbrüchigen entdeckt. Sie holte Hilfe herbei, und schließlich gelang es, den Bewusstlosen ins Leben zurückzurufen. Die kleine Seejungfrau beobachtete, dass der Prinz sich aufrichtete, eine Zeitlang verwirrt umher sah und offenbar nicht begriff, wie er hierher gekommen war. Zuletzt schien er anzunehmen, dass die Wellen ihn an dieses Ufer getragen und hier an Land gespült hatten. Er wechselte mit den Umstehenden einige Worte und lächelte ihnen freundlich zu. Dass einen Steinwurf weit, im Schutze von Klippen, ein kleines Meerweibchen lag, dem er es zu danken hatte, dass er noch die Sonne sehen durfte, davon ahnte er natürlich nichts - aber trotzdem tat es ihr weh, kein gutes Wort von ihm zu hören. Als man ihn in die Abtei geleitete, sah sie tief enttäuscht hinter ihm drein. Nun hatte sie ihn verloren. Nun würde sie ihn nie wieder sehen. Sie war ja nur geschaffen, um im Wasser zu leben. Auf der Erde zu wandeln - dazu fehlte ihr das Wichtigste: die Füße. Bekümmert ließ sie sich in die Tiefe gleiten und langte trübselig, niedergeschlagen, vor dem Palast des Meerkönigs an.
Man hatte sie nie anders als verschlossen und wortkarg gekannt - jetzt wurde das aber viel ärger. All den Fragen ihrer Schwestern nach dem, was ihr auf Erden widerfahren war, gelang es nicht sie zum Sprechen zu bringen. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht an die Oberfläche schwamm, und zwar blieb stets der Platz, an dem sie den Prinzen an Land gebracht hatte, ihr Ziel doch ihn selbst bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Er musste das Kloster wieder verlassen haben. Ihre einzige Freude bestand nun darin, die Marmorfigur zu betrachten, die in ihrer Rabatte stand, da die Züge der Statue so große Ähnlichkeit mit denen des Prinzen hatten. Um ihre Blumen kümmerte sie sich kaum mehr. Sie wucherten wild über die Wege und vereinten ihre Ranken mit den herabhängenden Ästen der Bäume, so dass es in ihrem Teil des Gartens fast wie in einem Urwald aussah.
Schließlich ertrug sie es nicht länger und vertraute sich ihrer ältesten Schwester an. So erfuhren auch die vier anderen Prinzessinnen davon - sonst aber niemand, mit Ausnahme einiger Hoffräulein, die es für sich behielten, wenn man davon absieht, dass sie es jenen Gespielinnen mitteilten, auf deren Verschwiegenheit sie sich unbedingt verlassen konnten. Eine der Nixen hatte das Schiffsfest aus der Ferne beobachtet und war in der Lage, Näheres über den Prinzen zu sagen, vor allem, woher er kam und in welchem Lande er dereinst den Thron besteigen werde."Komm!" riefen die fünf Schwestern der jüngsten zu, nahmen sie in die Mitte und schwebten eng umschlungen zur Erde empor. Dort, wo sie auftauchten, lag der Palast, in dem der Prinz wohnte.
Die Mauern bestanden aus glitzernden Quadern, und über Marmorstufen gelangte man ins Innere des Schlosses. Goldkuppeln wölbten sich über dem Dach, und zwischen jedem der Altane waren alabasterweiße Figuren aufgestellt, die wirkten, als seien sie lebendig. Durch die blanken Fensterscheiben blickte man in prunkvolle Säle voll herrlicher Bilder, erlesener Teppiche und blinkendem Silber. Man konnte sich an all der Pracht kaum satt sehen. Das Schönste war ein Springbrunnen, der die Mitte der großen Halle einnahm und seine Wassersäulen turmhoch emporsteigen ließ, so dass sich die Sonnenstrahlen tausendfach in den sprühenden Tropfen brachen.
Die kleine Seejungfrau war glücklich, das Haus zu sehen, in dem der Prinz lebte, und beschloss, in Hinkunft Nacht für Nacht hierher zu kommen. Und das tat sie auch. Immer näher und näher wagte sie sich, so dass sie zuletzt, unterhalb eines Söllers, auf dem der schöne Jüngling stand und nach dem Mond sah, im Schatten lag und zu ihm empor spähte. Und wenn er sich - von seinem Hofstaat begleitet - an Bord eines der Schiffe begab, die im Hafen lagen, um noch eine Stunde auf dem Wasser zu verbringen, so folgte sie dem Fahrzeug. Verfing sich dann der Wind in ihrem hellen Schleier und wirbelte ihn hoch, so meinten die, die es sahen, es seien Nebelschwaden, wie sie abends häufig aus dem Meer aufsteigen.
Zuweilen lag die kleine Seejungfrau auf einem Riff und lauschte den Gesprächen der Fischer, die in ihren kleinen Booten saßen und wahre Loblieder auf die Güte und Großmut des Königssohns sangen. Nun war sie doppelt froh, ihn damals vor dem Ertrinken behütet zu haben. Manchmal glaubte sie, noch den Druck seines Kopfes auf ihrer Schulter zu spüren, der dort geruht hatte, während er ohne Bewusstsein gewesen war. Wie schade, dass er von alledem nichts wusste.
Von Tag zu Tag fühlte sie sich stärker zu den Menschen hingezogen, und immer öfter wurde sie von dem Verlangen erfasst, ständig mit ihnen leben zu dürfen. Die Erde dünkte sie ungleich begehrenswerter als die Wasserwelt, die ihre Heimat war. Und wie vieles stand diesen zweibeinigen Wesen zu Gebote, wie viele Möglichkeiten hatten sie, sich fortzubewegen: sie konnten wandern, laufen, klettern, springen, konnten Berge erklimmen und besaßen überdies flinke Schiffe, mit denen sie auch des Meeres Herr wurden. Die kleine Seejungfrau wünschte sich brennend, noch tausenderlei über das Leben und Treiben der Erdenbewohner zu erfahren. "Ist es so, dass die Menschen, die nicht ertrinken, immerdar leben und nicht zu sterben brauchen wie wir?" fragte sie eines Tages.
Die Schwestern mussten ihr die Antwort schuldig bleiben; deshalb wandte sie sich an ihre Großmutter, die lächelnd zur Antwort gab: "Wenn niemand stürbe, hätte die Erde bald keinen Raum mehr, die Millionen und aber Millionen zu fassen. Nein, so ist es nicht. Auch das Leben der Menschen ist begrenzt, ja sogar noch weit kürzer als das unsere. Das Meervolk wird in der Regel dreihundert Jahre alt, und ist unsere Zeit um, so werden wir zu Schaum, der auf den Wellen treibt. Uns legt man nicht in Gräber, die unsere Nachkommen pflegen. Und noch etwas anderes unterscheidet uns von den Menschen: sie haben eine Seele, die unsterblich ist - wir nicht. Nach unserem Tode ähnelt unser Los dem des Schilfrohrs, das geknickt worden ist: es kann nie mehr ersprießen. Für uns gibt es keine Auferstehung zu einem anderen Leben. Die Menschenseele hingegen stirbt niemals, auch dann nicht, wenn die Hülle schon längst zu Staub zerfallen ist. Sie steigt zum Himmel empor, so wie wir vom Meeresgrund zur Erde emporsteigen - und dieses himmlische Reich, in dem der Thron Gottes steht, werden wir Seebewohner nie erblicken."
"Warum haben wir keine unsterbliche Seele bekommen?" forschte die kleine Prinzessin. "Wie gern würde ich hundert Jahre meines Lebens opfern, um für kurze Zeit als Mensch auf Erden zu wandeln, eine Seele zu haben und mit ihrer Hilfe in den Himmel zu kommen!""Schlag' dir das aus dem Kopf!" verwies sie die alte Fürstin. "Mit uns hat es das Schicksal doch viel gnädiger gemeint."
Ihre Enkelin schüttelte den Kopf und meinte: "Dann bin ich also verurteilt, dereinst als Schaum an irgendeine Küste gespült zu werden, im Sande zu versickern und mich zuletzt in nichts aufzulösen! Gibt es denn gar keinen Weg, durch den ich zu einer unsterblichen Seele kommen kann?""Doch . . . den gibt es - aber dazu braucht es etwas, das schwer zu erlangen ist: die Zuneigung eines Menschen, dem du mehr bedeutest als alles andere auf Erden. Er muss dich so sehr lieben, dass er dir vor dem Altar gelobt, dir für alle Zeiten zu gehören. Erreichst du das, so geht ein Teil seiner Seele in dich über, und damit wirst du selbst ein Mensch. Dazu wird es aber wohl nie kommen, denn das schönste an uns, die Flosse, stößt die Erdenbewohner ab. Um ihnen zu gefallen, muss man auf zwei hässlichen Stelzen einhergehen, die unten flache Dinger haben. Sie nennen es Füße."
Wann immer die kleine Seejungfrau in Hinkunft ihren schuppigen Fischschwanz betrachtete, entrang sich ihr ein Seufzer."Nimm es doch nicht so schwer", versuchte die Großmutter sie zu trösten, "sei guter Dinge, mein Kind - das Leben ist kurz. Dreihundert Jahre sind im Nu vorüber. Geht's dann ans Sterben, ist immer noch Zeit, Trübsal zu blasen. Es muss etwas geschehen, um dich zu zerstreuen. Vielleicht ein Wettschwimmen mit einem kleinen zahmen Hai als erster Preis . . . oder ein Ritt auf Seepferdchen - nein, ich weiß etwas Besseres: wir wollen einen Ball veranstalten."
Nun wurde ein Prunk entfaltet, wie wir ihn uns kaum vorstellen können. Den Tanzsaal entlang wurden Hunderte riesiger Muscheln aufgestellt. Sie erstrahlten in allen Farben und zwar so stark, dass die Seeleute es an der Oberfläche sahen und sich zuriefen: "So schön haben wir das Meerleuchten noch nie gesehen!"
Fische von den absonderlichsten Formen und Farben kamen heran geschossen, voll Neugier, was da unten wohl im Gange sei, und die Lachse und Flundern, Schollen und Lampreten, Seeteufel und Heringe sperrten verwundert über so viel Pracht, die Kiemen auf.
Die Mitte des prächtig geschmückten Raumes nahm ein Teich ein - der bildete sozusagen die Tanzfläche, auf dem die Hofgesellschaft sich im Reigen drehte. Dazu sangen die Gäste mit ihren weichen, melodischen Stimmen, doch wurden alle durch die kleine Seejungfrau in den Schatten gestellt. Ließ sie ein Lied erschallen, verstummten die anderen und lauschten ihr andächtig, um zuletzt - wenn sie geendet hatte - in begeisterte Rufe auszubrechen. Diese Anerkennung freute sie ein wenig, denn sie war sich bewusst, dass es keine leeren Schmeicheleien waren, und ihr Gesang wirklich von keinem anderen Wesen übertroffen werden konnte. Doch was nützte das alles? Wenn sie an das Geschlecht der Menschen dachte, verdüsterte sich ihre Stimmung wieder. Der Gedanke an den Prinzen und seine Seele, die sie nie ihr eigen nennen würde, erfüllte ihr Herz mit unsäglicher Trauer. In einem unbewachten Augenblick stahl sie sich aus dem bunten Treiben fort und verließ heimlich den Palast. Sie schlich zu ihrem Blumenbeet und vertraute dem Marmorstandbild ihren tiefen Kummer an. Mit einmal glaubte sie, hellen Hörnerklang zu hören, der von der Meeresoberfläche herab drang. Sie war überzeugt, dass diese Töne, die sie bei ihren Besuchen auf der Erde häufig vernommen hatte, den Beginn von Festlichkeiten an Bord des Schiffes ankündigten, dem sie so oft gefolgt war.
Jäh schoss es ihr durch den Sinn: ‚Ich weiß, dass er mir mehr als alles andere bedeutet . . . mehr als mein Vater, als meine Schwestern, als die Großmutter . . . nie werde ich ihn vergessen können . . . mein ganzes Glück liegt in seinen Händen . . . ich will alles daransetzen, ihn für mich zu erringen - und damit eine unsterbliche Seele. Beim Tanz wird man mich nicht vermissen. . . ich werde jetzt, auf der Stelle, die alte Hexe besuchen. Wenn mich der Gang zu ihr auch zittern lässt - ich muss es tun, denn sicher weiß sie mir Rat.' Ohne noch lang zu überlegen, wandte sie sich den Wasserwirbeln zu. Jenseits derselben lag die Behausung der alten Vettel, der man übernatürliche Kräfte zuschrieb. Nie war die Seejungfrau vorher hier gewesen. Der Weg führte durch eine Einöde, in der weder Tang noch Algen sprossten. Dann kam sie durch ein endloses Gebiet, das schwärzlicher Sand bedeckte, und sah sich zuletzt vor brodelnden Wasserwänden, durch die sie sich vorwärts kämpfte. Als sie in ihrem Rücken lagen, dehnte sich ein Morast vor ihr aus, nach dessen Überwindung sie zu einem Garten kam, dessen Anblick einem das Blut in den Adern gerinnen lassen konnte. An Stelle von Hecken und Sträuchern ringelten sich tausende von Vielfüßlern in die Luft. Wo man das freundliche Grün von Blättern zu sehen erwartete, war ein Gewirr graugelber Fangarme, die unablässig mit ihren Fühlern nach einer Beute zu greifen schienen. Was immer sie erhaschten, war verloren. Als die kleine Seejungfrau die grauenhaften Lebewesen vor sich sah, die zugleich Tier und Pflanze sind, übermannte sie solches Entsetzen, dass sie an Flucht dachte, doch sie überwand ihren Schrecken.
"Wer eine unsterbliche Seele gewinnen will, darf nicht feige sein . . ."‚ murmelte sie vor sich hin, presste die Arme dicht an den Körper und warf sich mit solcher Schnelligkeit vorwärts, dass sie das ekelhafte Gezücht hinter sich hatte, ehe es einem der schleimigen Fänge gelungen war, sie zu fassen. Voll Abscheu erkannte sie nun, dass zwischen den Polypen noch Reste ihrer Opfer sichtbar waren: Gebeine verunglückter Menschen, Schiffstrümmer, Knochen von Tieren, die ins Meer gestürzt sein mussten, und was das schlimmste war: die Leiche einer Nixe, die sich offenbar zwischen die unheimlichen Zwittergeschöpfe gewagt und ihre Unvorsichtigkeit mit dem Tode gebüßt hatte.
Zitternd und völlig atemlos vor Angst langte die Prinzessin zuletzt auf einer Waldlichtung an, die von scheußlichen schleimigen Schnecken wimmelte. Hier stand das Hexenhaus, dessen Dach die grinsenden Schädel Ertrunkener schmückten. Das alte Zauberweib hockte vor der Tür und streichelte die riesigen Kröten, die ihr über die Brust krochen. Als sie die kleine Seejungfrau erblickte, stieß sie ein gellendes Lachen aus und krähte:"Du brauchst mir nichts zu sagen - ich weiß, warum du kommst. Du bist schön dumm! Aber weil dir dein Wunsch nur Kummer bringen wird, so soll er dir erfüllt sein, hübsche Kleine! Du hast genug davon, ein Meerweibchen zu sein, nicht wahr? Du willst den Fischschwanz für zwei Beine vertauschen - und alles nur, um den Prinzen zu bekommen... und eine Seele, wie die Menschen sie haben." Wieder stieß sie ein markerschütterndes Gelächter aus und fuhr dann fort: "Du bist im richtigen Moment gekommen. Hättest du mich einen Tag später besucht, so wär' dir nichts übrig geblieben, als ein Jahr zu warten. Ich mische dir ein Tränklein, das nimmst du mit auf die Erde, und wenn du oben ankommst, schluckst du die Arznei - mach' dich darauf gefasst, dass sie recht bitter schmeckt, aber was tut das? Die Hauptsache ist doch, dass du nachher aussiehst wie ein Erdenfräulein, und das soll geschehen. Der Fischschwanz wird von dir abfallen, dafür werden dir Beine wachsen, schlanke, hohe Dinger auf denen du dich fortbewegen kannst als wärest du damit geboren. Die Sache hat nur einen Haken: es tut sehr weh. Wo immer du deinen Fuß hinstellst, wird ein grässlicher Schmerz dich durchzucken. Willst du's um diesen Preis auch?" Die kleine Seejungfrau nickte. Um des Prinzen und der unsterblichen Seele willen musste man auch Leiden ertragen können.
"Gut", knurrte die Alte, "aber mach' dir eines klar: einen Weg zurück gibt es nicht. Ist die Flosse verschwunden, so kann dir keine Macht der Welt dein jetziges Aussehen wiedergeben. Nie mehr kannst du in unsere Welt zurückkehren, nie mehr deinen Vater, deine Heimat sehen. Und gelingt es dir nicht, den Mann zu gewinnen, dem zuliebe du das alles auf dich nehmen willst, macht er dich nicht zu seiner Frau, so war dein Opfer vergebens: du kriegst keinen Teil seiner Seele, und heiratet er eine andere, so bricht dein Herz entzwei, und du wirst das, was du am Ende deiner Tage als Meerweibchen geworden wärest: Schaum, der vergeht." Totenblass gab die Prinzessin zur Antwort:"Ich nehme alles auf mich."
"Schön", brummte die Meerhexe, "aber nun noch etwas: Der Preis, den ich fordere, ist hoch. Ich will als Lohn deine Stimme. Es ist dein kostbarster Besitz und du hast sicher gedacht, den Prinzen durch deinen Gesang zu entzücken und für dich einzunehmen - aber daraus wird nichts mein Zaubertrank kostet mich zehn Tropfen meines eigenen Blutes, und Hexenblut ist teuer." "Aber wenn ich nicht mehr zu sprechen, nicht mehr zu singen vermag, was bleibt mir dann?" "Dein hübsches Lärvchen, deine seelenvollen Augen, das neue Paar Beine, das du bekommst aber ich rede dir nicht zu. Überlege es wohl, und wenn du meinen Preis nicht zahlen willst, so troll' dich wieder heim."
"Und wenn ich einverstanden bin?" "Dann schneid' ich dir die Zunge ab und du bekommst dafür die heilsame Mixtur." Die kleine Seejungfrau sann kurze Zeit vor sich hin, dann stieß sie hervor: "Ich will alles tun, auch die Stimme hingeben."
"Dann sind wir einig", krächzte das alte Weib und begann, ihr Tränklein zu brauen, während sie vor sich hin plapperte: "Sauberkeit ist kein leerer Wahn - - " Dabei ergriff sie mit der Rechten einen Topf und mit der Linken einen Haufen Schnecken, um das Gefäß damit rein zu waschen. Dann zerhackte sie Krebsaugen, mischte Laich hinein, träufelte etwas vom Saft des Tintenfisches darüber, mengte das Ganze mit Tran, warf zerkleinerte Algenstiele in den Brei, tat alles in den Topf, den sie aufs Feuer setzte und begann zu rühren. Die aufsteigenden Dämpfe ballten sich zu sonderbaren Formen, bald sahen sie aus wie Delphine, bald wie Wasserleichen. "Jetzt kommt das Wichtigste...", murmelte sie schließlich, fasste nach einem Messer und schnitt sich in den Zeigefinger, aus dem rabenschwarze Blutstropfen sickerten. Sie hielt die Hand über den Kessel und die Prinzessin hörte sie zählen: "... sieben... acht... neun... zehn."
Bald begann das Zeug zu kochen. Die Hexe schüttete alles in ein Sieb, unter dem ein zweiter Kessel stand. Die Flüssigkeit, die durch die Löcher troff, war wasserhell und wurde von der Alten zuletzt in ein Fläschchen gegossen, dass sie der Prinzessin reichte."Da - nimm!" kreischte sie. "Sag': danke... es wird das letzte Wort sein, das du sprechen kannst." Und so war es auch, denn im nächsten Augenblick schnitt ihr die Alte die Zunge aus dem Mund. "Kommst du an den Vielfüßlern vorbei, so brauchst du sie nur mit dem Zaubertrank zu bespritzen, dann lassen sie gleich von dir ab!" rief ihr die Alte nach.
Die kleine Seejungfrau brauchte das aber gar nicht zu tun, denn als die ekelhaften Lebewesen das Fläschchen in ihrer Hand erblickten, zuckten sie zurück und wanden sich demütig im Sand. So gelang es ihr, aller Schrecknisse, die sich ihr auf dem Herweg entgegengestellt hatten, Herr zu werden. Von weitem erblickte sie das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Es lag im Dunkel, denn das Fest war schon zu Ende. Sie sehnte sich danach, einzutreten und von den Schwestern Abschied zu nehmen, aber dann ließ sie es wieder, da sie ja doch nicht die Möglichkeit besaß, ihnen auch nur Lebewohl zu sagen. Bekümmert wandte sie sich dem Garten zu, brach da und dort eine Blüte, die sie zur Erinnerung mitnahm, und riss sich dann von ihrer Heimat los.
Als sie aus dem Meer auftauchte, brach die Morgendämmerung an. Der Mond verblasste eben. Vor ihr lag der Palast, in dem sie den Prinzen wusste. Sie ließ sich am Ufer nieder, hob das Fläschchen an die Lippen und trank den Inhalt bis zur Neige. Im nächsten Augenblick durchzuckte sie ein Schmerz, der ihr Schreie abpresste. Dann schwanden ihr die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, war heller Tag. Sie blinzelte ins Licht, wandte sich dann um und sah in zwei dunkle Augen - der Prinz stand über sie gebeugt.
Eine Weile tauchten seine Blicke in die ihren, dann hob er sie auf, und sie erkannte, dass sie Beine hatte und aufrecht stehen konnte, genau wie die Erdenbewohner. Mit Schrecken wurde sie sich aber plötzlich bewusst, nackt zu sein. Nur ihr wunderschönes langes Haar, das ihr bis zu den Knien reichte, lag wie ein Mantel über ihrem Körper. Der Prinz bestürmte sie mit Fragen nach ihrem Namen und ihrer Herkunft, aber da ihr ja die Rede nicht mehr zu Gebote stand, antwortete sie ihm nur mit einem langen, innigen Blick. Da ergriff er ihre Hand und geleitete sie in den Palast.
Alles war so, wie die Meerhexe es vorhergesagt hatte: jeder Schritt, den sie tat, war qualvoll. Sie hatte das Gefühl, ständig auf Messerklingen und spitzige Domen zu treten - doch das nahm sie gern in Kauf und ging trotzdem mit vollendeter Anmut, die nicht nur den Prinzen, sondern auch seinen ganzen Hofstaat entzückte.
Es dauerte nicht lang, so galt sie als die Schönste im Lande. Herrliche Gewänder aus golddurchwirkten Stoffen wurden für sie angefertigt, so dass ihre Erscheinung erst jetzt richtig zur Geltung kam. Aber all die Bewunderung, die sie in den Mienen ihrer Umgebung las, vermochte sie nicht darüber zu trösten, dass sie außerstande war, ihre Gedanken in Worte zu kleiden. Noch mehr aber litt sie, wenn andere Frauen bei Hof erschienen und Lieder vortrugen, die sie viel besser gesungen haben würde - wenn sie noch die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Das Lob, das der Prinz den Künstlerinnen spendete, tat der kleinen Seejungfrau weh. ‚Wenn ich ihm das nur sagen könnte, dass ich seinetwegen meine Stimme hingegeben habe', dachte sie oft, und dann wurden ihre Augen nass.
Als aber einmal Tänzerinnen ins Schloss befohlen wurden, um Proben ihres Könnens abzulegen, verließ die Prinzessin plötzlich ihren Platz unter den Gästen und begab sich in die Mitte des Saales. Dort angekommen, reckte sie sich empor, so dass sie eine Weile auf den Zehenspitzen stand, begann dann, sich wie ein Kreisel um die eigene Achse zu drehen, vollführte Pirouetten, wiegte sich im Rhythmus der Musik, wirbelte förmlich durch die Luft und schien alle Erdenschwere verloren zu haben. Die Anwesenden wussten sich nicht zu lassen vor Bewunderung, und niemand ahnte, dass das herrliche Geschöpf schier unerträgliche Schmerzen litt, wann immer ihre Füße den Boden streiften. Der Prinz fand so viel Gefallen an ihr, dass er erklärte, sich nie mehr von ihr trennen zu wollen, und um zu zeigen, wie wert sie ihm war, bestimmte er, dass sie von nun an vor der Schwelle zu seinen Gemächern auf Samt und Seide ruhen solle.
Da er ihren Anblick auch während der Jagd nicht missen wollte, ließ er ihr Knabenkleider anpassen, so dass sie mit ihm hinter der Meute her sprengen konnte, und auch wenn er nur ziellos durch Feld und Flur ritt, war sie stets an seiner Seite. Sie wanderte mit ihm durch Schluchten und Täler, klomm steile Hänge empor und erstieg in seiner Gesellschaft die höchsten Gipfel. Bemerkte ihr Begleiter schließlich, dass an ihren kleinen Füssen Blut aus vielen Wunden sickerte, und zeigte er seine Besorgnis darüber, so schüttelte sie lächelnd den Kopf und tat es durch eine Handbewegung ab. Nichts konnte sie davon abhalten, ihren Weg fortzusetzen - wenn sie sich nur damit seine Nähe erkaufte. Sobald alle zur Ruhe gegangen waren, schlich sie stets aus dem Palast, setzte sich am Ufer nieder und ließ das Meer ihre schmerzenden Füße umspülen. Es war, als stiege etwas Vertrautes, Heimatliches aus der See zu ihr auf.
Eines Nachts hoben ihre Schwestern die Köpfe aus dem Wasser und ließen wehmütige Lieder erschallen. Als sie sie erblickten, schwammen sie näher und sprachen davon, welch großen Schmerz sie ihnen angetan habe. Nun kamen sie Nacht für Nacht, und einmal erschien sogar ihr Vater, der sonst sein Reich nicht zu verlassen pflegte. Schließlich trieb die Sehnsucht nach ihrer jüngsten Enkelin sogar die Großmutter zur Erde empor, wo sie schon hundert Jahre nicht gewesen war. Aber auch so einflussreiche Leute wie der Meerfürst und die Königinmutter konnten hier oben, wo ihrer Macht Grenzen gesetzt waren, nichts für die kleine Seejungfrau tun.
Nach und nach schloss der Prinz den "Findling", wie er sich ausdrückte, innig ins Herz, doch fühlte er für sie nur eine brüderliche Zuneigung - sie zu seiner Frau zu machen, kam ihm gar nicht in den Sinn. Tat er das aber nicht, so waren alle Opfer vergebens gewesen, dann blieb ihr eine Seele versagt, und an dem Tag, da er sich einer anderen vermählte, war ihr erborgtes Menschendasein zu Ende.‚Bedeute ich dir nicht mehr als die anderen? Stehen wir uns nicht so nahe, als sich zwei Menschen nur stehen können?' fragten ihn ihre Augen immer und immer wieder. Er schien verstanden zu haben, was sie beschäftigte, und gab zur Antwort: "Ich bin dir unendlich gut - nicht nur, weil ich sehe, wie du an mir hängst, sondern vor allem, weil du mich an ein bezauberndes Geschöpf erinnerst, das ich nicht vergessen kann. Ich war damals dem Tode nahe und wäre beinahe ertrunken. Das Meer spülte mich unweit eines Klosters an Land. Eine junge Novize sah mich und holte Hilfe herbei. Obwohl sie schon nach kurzer Zeit wieder entschwand, hat sich mir ihr Bild unauslöschlich eingeprägt - aber ich darf natürlich nicht hoffen, sie jemals zu gewinnen, da sie ja den Schleier genommen hat. Du gleichst ihr ein wenig -und doch auch wieder nicht. Zuweilen ist mir, als hätte ich auch dich schon früher gesehen. . . im Traum vielleicht -"
Er ahnt nicht, dass er mir seine Rettung verdankt . . .', sagte sich die kleine Seejungfrau, ‚. . . dass ich ihn in meinen Armen hielt, bis das Ufer erreicht war. Er glaubt, mich schon einmal erblickt zu haben - und so wird's wohl auch sein. Sicher hat er in der Bewusstlosigkeit die Augen aufgeschlagen und mich angeschaut, bevor er wieder die Besinnung verlor, doch weiß er nichts mehr davon . . Als sie an die junge Nonne dachte, entrang sich ihr ein Seufzer. Dieses schöne Wesen also liebte er, wie sie selbst gehofft hatte, von ihm geliebt zu werden. Ihr einziger Trost war, dass er die Himmelsbraut ja nie zu seiner Gattin machen konnte. Sie werden einander nicht wieder sehen', dachte die Prinzessin, ‚ich hingegen bin ständig um ihn.., eines Tages wird die Erinnerung an sie verblassen - dann wird er mich fragen, ob ich die Seine werden will.'
So ging einige Zeit ins Land. Da und dort wurde gesprochen, dass der Prinz eine Reise zu unternehmen gedenke, und das musste wahr sein, denn ein mächtiger Dreimaster wurde instand gesetzt und mit Proviant für fünfzig Tage versehen. Der Seejungfrau kam zu Ohren, dass das Ziel der Fahrt die Residenz des Königs sei, der im Nachbarlande herrschte, und manche Leute wollten wissen, dass der Monarch eine wunderschöne Tochter habe, die sich der Thronfolger gewiss als Gattin holen wolle. Zuweilen drängten sich der kleinen Prinzessin böse Ahnungen auf, doch sie verscheuchte sie immer wieder, glaubte sie doch, sicher sein zu dürfen, dass ihr von dieser Seite keine Gefahr drohe. Und als der Prinz im Gespräch mit ihr die Sache erwähnte, erhielt sie die Bestätigung dafür, dass er nicht an eine Heirat dachte. "Mein Vater wünscht, dass ich diese Reise antrete", erzählte er, "doch zu einer Verbindung kann mich niemand zwingen. Ich bin gewiss, dass das Mädchen, das mir zugedacht war, der Einen nicht ähnlich ist, an die ich immer denke. Kommt der Tag, an dem ich mich für eine Frau entscheiden muss, so werde ich die heimführen, die meinem Traumbild am meisten gleicht - und das bist du."
Er sah sie mit großer Zärtlichkeit an, strich ihr liebevoll über den Scheitel und legte seinen Kopf an ihre Brust. Mehr denn je erstarkte der Glaube in ihr, dass die Zeit nicht mehr fern sei, da ihr die Seele geschenkt werden solle, um derentwillen sie so viel geopfert hatte. "Hast du Angst vor der See, kleiner Findling?" fragte er, während sie die Fregatte bestiegen. Er sprach ihr von der Weite des Ozeans und seiner Schönheit, schilderte die Pflanzen, die auf seinem Grunde wuchern sollten, und die seltsamen Fische, die ihn bevölkerten. Lächelnd hörte sie ihm zu - über das Leben in der Meerestiefe hätte sie ihm vieles, von dem er sich nichts träumen ließ, berichten können. Wenn der Mond auf den Wellen lag, und an Bord alles schlief, begab sie sich ans Heck und versuchte, mit ihren Blicken die Wasserfläche zu durchdringen. Zuweilen schien es ihr, als gewahre sie etwas Rotes da unten - das musste das Korallenschloss sein. Dann wieder glaubte sie, das Flimmern der Muscheln wahrzunehmen, mit denen das Dach gedeckt war. Und einmal bildete sie sich sogar ein, ihre Großmutter zu erkennen und das Gleißen der Krone auf ihrem weißen Haar.
Während sie über die Brüstung gebeugt stand, sah sie mit einem Mal ihre Schwestern auftauchen, die sie kummervoll anstarrten. Die kleine Seejungfrau machte ihnen Zeichen, näher zukommen, sie sehnte sich danach, mit ihnen zu sprechen, ihnen zu sagen, dass sich nun alles bald zum Guten wenden werde, doch in diesem Augenblick erschien einer der Matrosen auf Deck. Die scheuen Meerweibchen ließen sich hastig in die Tiefe gleiten, so dass der Mann glaubte, der helle Schimmer da draußen sei nichts als eine Schaumkrone gewesen. Wenige Tage später ging die Fregatte angesichts der Residenz des Königs, dem der Besuch des Prinzen galt, vor Anker. Der Empfang, den man ihm bereitete, war feierlich: Glockengeläute und Fanfarenstösse begrüßten ihn, und ein ganzes Regiment rückte mit fliegenden Bannern als Ehrengarde auf.
Sobald der Gast das Land betreten hatte, schollen ihm Hochrufe entgegen, die schier kein Ende nehmen wollten. Dann geleitete ihn das Herrscherpaar, von allen Würdenträgern des Reiches gefolgt, in das Schloss, das ihn und seinen Hofstaat beherbergen sollte. Und nun folgte ein Fest, ein Empfang, ein Bankett dem anderen. Doch wo blieb die Königstochter? Sie war noch nicht zum Vorschein gekommen, und als der Prinz sich aus Artigkeit nach ihr erkundigte, vernahm er, dass sie in der Obhut einer weisen Äbtissin aufgewachsen sei, die sie in allen Wissenschaften unterrichtet habe. Jetzt aber sei ihre Erziehung abgeschlossen, und nächster Tage werde sie erwartet.
Kurz darauf hielt sie ihren Einzug in die Hauptstadt. Als die kleine Seejungfrau sie erblickte, begann ihr Herz stürmisch zu klopfen. Sie hatte sie auf der Stelle erkannt - es war niemand anders als die junge Novize, das Mädchen, das der Prinz so innig liebte. Die Begegnung mit ihr überwältigte ihn förmlich. Verzückt starrte er sie an und stieß hervor:"Ist es möglich? Dich, von der ich seit so langer Zeit träume. . . der ich meine Rettung verdanke, dich finde ich hier wieder!? Du bist die Prinzessin, deren Schönheit man mir rühmte - - Willst du mich zum Gatten nehmen? Mein Leben soll nur den einen Zweck haben: dich glücklich zu machen."
Das junge Mädchen sah ihn strahlend an. Auch sie hatte ihn offenbar nicht vergessen. "Es ist mein höchster Wunsch, dir zu gehören."‚ entgegnete sie leise. Nun wandte er sich seiner stummen Begleiterin zu und sagte: "Niemand kann meine Freude besser begreifen als du, die weiß, wie sehnsüchtig ich immer an das herrliche Geschöpf gedacht habe, das jetzt meine Braut geworden ist. Was ich nie zu hoffen wagte, wird nun Wirklichkeit - verdiene ich ein solches Glück denn überhaupt?" Obwohl ihr der Kummer beinahe das Herz zerriss, zwang sich die kleine Seejungfrau zu einem Lächeln, das ausdrücken sollte, wie sehr sie innerlich an seinem Jubel teilnahm.
Um das bevorstehende Ereignis kundzutun, zogen Staatsboten durch das Land, die dem Volk die Verbindung der beiden Königskinder mitteilten. In den Kirchen wurden Messen zelebriert, und als der Hochzeitstag herangekommen war, schloss der Bischof selbst den Bund des jungen Paares. Das Meerweibchen war zur Schleppträgerin der Braut erkoren worden, aber sie vernahm nichts von den feierlichen Orgelklängen, sah nichts von all dem Prunk rings um sie her. Ihre Gedanken kreisten unablässig um den Tod, der nun nicht mehr abzuwenden war - sie hatte verspielt und konnte die unsterbliche Seele nun nicht mehr gewinnen.
Von der Festtafel aus begaben sich die Neuvermählten an Bord der Fregatte. Aus Hunderten von Geschützen wurden Salven abgefeuert, während der Dreimaster die Anker lichtete. In der Mitte des Decks erhob sich ein prächtiges Zelt aus golddurchwirkten Stoffen, voll kostbarer Teppiche aus dem Morgenland. Bevor sich der Prinz und seine junge Frau in dasselbe zurückgezogen, nahmen sie noch an dem Ball teil, den die Schiffsbesatzung veranstaltete.
Nie zuvor hatte man das schöne, stumme Mädchen, das so wunderbar tanzen konnte, mit einem solchen Ausdruck wilder Lust von einem Arm in den anderen fliegen sehen. Was jeder Schrift die kleine Seejungfrau kostete, ahnte niemand - und sie selbst achtete der Schmerzen nicht. Das Weh in ihrer Brust ließ sie die körperlichen Leiden nicht empfinden. Ständig dachte sie daran, dass dies die letzten Stunden ihres Lebens seien, und dass sie den, um dessentwillen sie alles, was ihr teuer gewesen war, dahingegeben hatte, nun bald verlassen müsse, um zum sterben, zu vergehen. Sie hatte auf nichts mehr zu hoffen und überließ sich deshalb dem ausgelassenen Treiben mit einer wahren Gier, noch alles auszukosten, was die Erdenweit an Fröhlichkeit enthielt. Doch je mehr die Nacht vorrückte, desto stärker nahm die Todesangst von ihr Besitz, und als zuletzt Musik und Lachen verstummten und sich alle zur Ruhe begeben hatten, kauerte sie einsam am Heck, mit gesenktem Kopf, wie eine Verurteilte, die den Todesstreich erwartet. Sie wusste: sobald der neue Tag kam, hatte ihr Dasein ein Ende.
Als die Brise, die der Morgendämmerung voranzugehen pflegt, über die 'Wellen strich, sah das Meerweibchen ihre Schwestern aus der See auftauchen, doch sie hatten sich seltsam verändert. Ihre Köpfe, sonst von Locken umflattert, waren kahl."Wo ist euer Haar hin?" fragte die kleine Seejungfrau."Das hat die Hexe . . . sie verlangte es als Preis für deine Rettung . . . es gibt nämlich einen Weg, dich vor dem Tode zu bewahren..."‚ riefen die Mädchen durcheinander. Und die Älteste hielt ein Messer hoch, das sie ihrer Schwester reichte. "Da - nimm!" sagte sie. "Die Alte hat es uns verkauft. Stoße es dem Prinzen in die Brust! Wenn sein Blut auf deine Füße träufelt, so verschwinden sie wieder, und du wirst aussehen wie zuvor...kannst dich wieder zu uns gesellen und dreihundert Jahre glücklich sein. Zaudere nicht! Einer von euch beiden muss sterben, bevor der Tag graut. Nimm ihm das Leben, damit du zu uns zurückkehren kannst. Schnell - bevor es zu spät ist! Der Horizont färbt sich schon rot! Deine letzte Stunde bricht an..."
Die kleine Seejungfrau sah benommen auf die Waffe in ihrer Hand. Als sie aufs Meer hinausblickte, waren ihre Schwestern verschwunden. Sie wandte sich um, schlich zum Zelt, schob den Vorhang zur Seite und schlüpfte hindurch. Eine Zeitlang starrte sie die beiden Schlafenden an. Der Prinz schien von seiner jungen Frau zu träumen, denn er murmelte zärtlich ihren Namen. Das Meerweibchen fühlte Hass in sich aufsteigen. Warum sollten dieser fremden Königstochter Jahrzehnte voll Glück und, nach ihrem Erdenwallen, ein ewiges Leben in einer anderen Welt beschieden sein, während ein Wesen, das ihn vielleicht noch tiefer liebte, verdammt war, zu sterben, bevor die Sonne aufging, um niemals wiederzuerstehen. Mit einem Ruck hob sie den Dolch. Ihre Augen suchten die Stelle der Brust, unter der das Herz des Prinzen schlagen musste. "Ich will nicht zugrunde gehen." zischte sie und schickte sich an, zuzustoßen - doch im letzten Augenblick verließ sie die Kraft. Ihr Arm sank herab. Zitternd vor Entsetzen über das, was sie im Begriff gewesen war, zu tun, trat sie aufs Deck hinaus und schleuderte das Messer in hohem Bogen von sich. Die Klinge durchschnitt förmlich die Luft und sauste dann in die Fluten, die sich, wie von aufsteigendem Blut, rot färbten. Dann schritt sie an die Brüstung, schwang sich hinüber und warf sich in die See. Im Augenblick, in dem sie untersank, fühlte sie, wie ihre Glieder sich in Gischt auflösten.
Was aber die kleine Seejungfrau nicht wusste, war, dass es auch für die Meerbewohner ein Leben nach dem Tode gibt. Wohl werden sie zu Schaum - aber das ist nicht das Ende, sondern nur ein Übergang. Der Schaum verflüchtigt sich und wird zu einem Gebilde, ohne das kein Lebewesen atmen kann."Wo bin ich?" fragte die kleine Seejungfrau, als sie sich steigen und immer höher steigen fühlte."Im Reich der Luft", säuselte der Wind, "denn nun bist du einer ihrer Geister geworden.""Haben die Luftgeister eine Seele?" fragte die kleine Seejungfrau. "Nein, aber sie können sie erringen."
"Wodurch?"
"Durch gute Werke. Sie haben jeden Tag Gelegenheit dazu. An ihnen ist es, die heißen Stirnen der Kranken zu kühlen . . . den Duft aus den Gärten in die Häuser zu tragen . . . und noch vieles, vieles andere können sie für die Menschen tun. Deshalb schenkt Gott ihnen zuletzt ewiges Leben und die Seele, um derentwillen du auf Erden so viel gelitten hast."
Als die kleine Seejungfrau das hörte, ging etwas Seltsames mit ihr vor. Sie, die nie hatte weinen können, spürte, dass sich Tropfen aus ihren Augen lösten, die herabflossen und in die Tiefe fielen.
Auf einer Wiese spielten kleine Kinder. Als der nasse Schauer nieder rieselte, flüchteten sie unter einen großen, großen Schirm, und eines sagte: "Sonderbar - es regnet vom blauen Himmel herab."
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