1. Kapitel aus dem Buch „Sofia und Anders“  

von Marianne Fredriksson, die ISBN 3-8105-0652-4

 

 

Langsam, ganz langsam schwebten die Kinder der Decke entgegen. Sie machten eine Drehung um Jesus, als lüden sie ihn ein, mit ihnen zu kommen. Aber er konnte sich nicht vom Kreuz lösen, an das die Menschen ihn genagelt hatten. Deshalb schüttelte das Mädchen traurig den Kopf, als sie dem Gewölbe der hellblauen Kirche weiter entgegen schwebten. Ihre Hand um die des Jungen griff fester zu. Die Geschwindigkeit der beiden steigerte sich.

 

„Mein Gott“, flüsterten die Leute vor Schreck, da sie jeden Augenblick erwarteten, dass die Kinder gegen die Mauern prallten. Aber ein Wind kam auf und öffnete das Gewölbe, ein kräftiger Sturm, der durch das Gebäude brauste und den Kirchengeruch hinaus trieb. Und sie sahen den Himmel. Alle sahen den Himmel, als die Kinder auf ihrer Reise der Sonne entgegen verschwanden, von den Windböen gewiegt wie leichte Vögel im Sturm. Dann schloß sich das Kirchendache, und es war, als wäre nichts geschehen.

 

 

Es war während des Hauptgottesdienstes an einem Adventssonntag in der Kirche von Östmora. Zweihundertundacht Seelen hatten sich eingefunden. Die meisten kamen einfach aus Lust und Laune, unvertraut mit dem Ritual mit vagen Erwartungen. Dreiundvierzig gehörten zu den üblichen, treuen Kirchengängern. Sie kannten eineander seit vielen Jahren, nicht nur dem Namen nach.

 

Maria Elofson wurde vermißt. Das war sicher der Rücken, flüsterten sie. Der Doktor war da, wie immer, seit seine Frau gestorben war. Die Brüder Björkmann saßen in der zweiten Reihe, frisch gewaschen und rotwangig verströmten sie üblichen Duft nach altem Kaffee. Sie hatten wie stets am Sonntagmorgen, die Flecken auf ihren schwarzen Anzügen mit dem Satz aus dem Kaffeekessel ausgerieben. Drei Mädchen die im Frühling konfirmiert werden sollten, waren auch da, recht  in der ersten Bank.

 

Der Pfarrer war jung, schwach im Glauben und stark in der Rede.

 

Kurz gesagt, nichts hatte erahnen lassen, dass Östmora an diesem Tag von einem Wunder heimgesucht werden sollte. Das einzige Ungewöhnliche waren die Kinder gewesen. Sie hatten direkt vor dem Altar gesessen, ganz weit vorn in der ersten Bank, und das Mädchen, das größer war, hatte seinen Arm um die Schulter des Jungen gelegt. Mia Johansson, die eine Ausnahme unter Gottes Kindern bildetet und in allem nur Gutes sah, dachte gerührt, dass Kerstin Horners merkwürdiges Enkelkind sicher ein gutes Herz hatte und außerdem viel Geduld mit Berglunds blindem Jungen.

 

 

Aber dann überlegte sie etwas beunruhigt, dass die Berglunds, die ja dem schwedischen Missionsverbund angehörten, es vielleicht gar nicht gern sahen, wenn das Mädchen den armen Blinden in die Staatskirche nahm. In der Bank hinter sich hörte sie die Schwester Enström flüstern, es ärgere Kerstin Horner bestimmt, das ihre Enkelin Gott aufsucht. Heidin, die sie war, und hochmütig dazu.

 

Der Pfarrer stand auf der Kanzel and las laut seine Predigt deutlich und mit langen Pausen. Die Akustik des Kirchenraums zwang ihn zu den Unterbrechungen, und jedes Mal, wenn er das Echo der Kuppel abwartete, spürte er die Angst. Ich wollte mir einen anderen Job suchen, dachte er. Eigentlich hätte er darauf vorbereitet sein müssen, der Neupfarrer Karl Erik Holmgren. Hatte er doch seinen Tag mit einem verzweifelten Gebet an den Gott begonnen, an den er nur schwer glauben konnte. Ein Gebet ohne alle Hoffnung auf ein Wunder, das ihm das Vertrauen der Kindheit wiedergeben könnte.

 

Aber als die Kinder dem Kirchendache entgegen schwebten, empfand er genauso viel Angst wie alle anderen, genauer gesagt sogar noch mehr. Hätte er nur seine Stimme und die richtigen Worte gefunden, so hätte er geschrien: Hör auf Gott, hör doch auf. Ich habe es nicht so gemeint...

 

Nun geschah das Wunder aber nicht während seiner Predigt, sondern erst während des Kirchenliedes „Bereitet den Weg für den Herrn! Die Berge versinken, die Tiefen erheben sich.“ Unerhörte Worte, dachte der Pfarrer, von viel größerer Bedeutung als zwei Kinder, die zum Kirchendache hinauf flogen. Im selben Augenblick, als er dies dachte, hörte er Gott lachen.  Gott lachte. Er stellte das Wunder von Östmora infrage, machte es ganz einfach lächerlich. Aber nur der Pfarrer hatte Gottes Lachen gehört, und das würde ihn von nun an sein ganzes Leben lang wie eine besondere Gabe begleiten.

 

 

Nachdem die Kinder verschwunden waren und das Kirchendach sich wieder geschlossen hatte, saßen die Leute wie versteinert da. Sie sahen erschrocken auf ihren Hirten, er müsse doch etwas sagen, was sie wieder auf den Boden der erklärbaren Tatsachen zurück führte. Aber er stand unbeweglich da, das Gesicht dem geschlossenen Dach zugewandt. Und er lachte; ja genau, das tat er.

 

Das wurde hinterher lebhaft besprochen, das Lachen des Pfarrers. Bei weitem nicht alle hatten es gesehen, viele bezweifelten es. Die drei Konfirmandinnen, die in der ersten Bank gesessen hatten, bestritten es. „Ach was, er hat nur blöd geguckt.“

 

„Er sah selig aus“, sagte Mia, die immer nur das Beste wollte. Einig waren sich jedoch alle darin, wer den Bann in der Kirche gebrochen hatte, alle erinnerten sich daran, wie Nils Björkman sich erhoben hatte und rief. „Aber um Gottes willen, wir müssen die Kinder finden!“ Das half. Plötzlich konnten sie sich bewegen, sie holten Luft und zwängten sich durch die Kirchentür, um in alle Richtungen zu schwärmen und zu rufen: „Sofia, Anders!“

 

Die Björkmann Brüder nahmen sich den Friedhof vor, suchten hinter jedem Stein, hinter jeder Mauer und jeder Hecke. Linnes Haglund, die Schmerzen in den Beinen hatte, erklärte, sie seien dumm, es müsse doch jedem klar sein, dass die Kinder weit weg getrieben seien – bei der Geschwindigkeit, die sie drauf hatten, als sie durchs Dach sausten.

 

Der Doktor kam auf die Idee, den Eltern Mitteilung zu machen. Er selbst übernahm es, Kerstin Horner anzurufen. Seien Hand, die den Telefonhörer hielt, zitterte. Was in Gottes Namen sollte er nur sagen, überlegte er, während er in der Sakristei stand und versuchte, seien Blick an den Pfarrersgewändern auf ihrem Bügel festzuhalten.

 

„Horner“, sagte die ruhige Stimme im Hörer.

 

„Ja, hallo, hier ist Ake Arenberg.  Ich, ich wollte hören, wie ... wie es Sofia geht?“

 

„Das ist aber nett“, sagte die Stimme. „Weißt, du, sie hat die Weihnachtsgrippe, die gerade umgeht, leichtes Fieber und so. Aber ich glaube, nichts Ernstes.“

 

„Aber wo ist sie?“ Jetzt schrie er, und sie sagte ganz ruhig und verwundert, dass Sofia schlafe, wie Kinder es tun, wenn sie Fieber haben. Sie sei nach dem Frühstück wieder eingeschlafen.

 

„Ich habe ihr eine Tablette gegeben, sagte sie entschuldigend. „Gegen die Kopfschmerzen. Aber warum fragst du?“

 

Lange Zeit blieb es still, schließlich brachte er gepresst heraus: „Hier gibt es Leute, die meinen, sie hätten sie gesehen.“

 

„Wo?“

 

„Auf .. auf dem Weg aus der Kirche.“

 

„Dann haben sie Gespenster gesehen“, sagte Kerstin lachend. Und der Doktor, der es nicht länger aushielt, legte den Hörer auf.

 

Zur gleichen Zeit kamen die Brüder Björkman zurück in die Kirche, keuchend und heftig aufeinander einredend. Sie waren bei den Berglund gewesen und hatten mit eigenen Augen Anders schlafen sehen, ziemlich unruhig aufgrund des hohen Fiebers. Der Blinde hatte den ganzen Vormittag geschlafen, seine Mutter war beunruhigt und wollte gern, dass der Arzt vorbeikomme uns sich den Jungen einmal anschaue.