Der  Wünsche-Stern

Ein Weihnachtsmärchen von Heidrun Siebenhofer

   Nur im Advent strahlt der „Wünsche-Stern“, vom Himmel. Ihm vertrauen die Kinder vor dem Schlafengehen ihre großen und kleinen Wünsche fürs Christkind an. Doch seit einigen Tagen halten die Kinder vergeblich nach ihm Ausschau. Susi und ihr kleiner Bruder Peter bitten beim Gutenachtgebet ihren Schutzengel um Hilfe, er solle doch bitte nachschauen, weshalb der Wünsche-Stern nicht mehr zu sehen ist.

Bald, nachdem Susi und Peter eingeschlafen waren, erschien ihnen der Schutzengel im Traum und versprach ihnen zu helfen. Er streute ganz besondere Sternenkristalle über die schlafenden Kinder und schickte sie daraufhin mit der Traumwolke ins Herzensland. Als Susi und Peter dort angekommen waren, wurden sie von einem schwarzweiß gefleckten Hund erwartet, der sie herzlich willkommen hieß. „Die anderen warten am Dorfplatz auf euch“, sagte er, und ging ihnen voran. „Euer Schutzengel hat uns euren Besuch angekündigt,“ fügte er erklärend hinzu.

Die beiden fanden es ganz natürlich, dass der Hund zu ihnen sprach. Waren sie doch im Herzensland.

Nach wenigen Schritten waren sie dort. Buntbemalte Häuser mit Blumen auf den Fenstersimsen waren kreisförmig um den Dorfplatz angeordnet, auf dem sich schon einige neugierige Bewohner eingefunden hatten. Die Kinder wurden von ihnen herzlichst begrüßt. Sogar der Herr Bürgermeister befand sich unter der wartenden Schar.

   Susi erzählte den Leuten, weshalb ihr Bruder und sie hier seien, und ob sie ihnen vielleicht bei der Suche nach dem verschwundenen Wunschstern behilflich sein könnten. Der Bürgermeister rückte seine Nickelbrille zurecht und fuhr sich mit allen Fingern durch seinen krausen Haarschopf, ehe er feststellte: „Das wird nicht einfach, denn der Wünsche-Stern ist nur im Sternenland zu finden, aber da dürfen zur Weihnachtszeit keine Erwachsenen hinein“, meinte er mit einem entschuldigenden Achselzucken.

„Was machen wir denn jetzt?“ überlegten Susi und Peter.

Auf dem Hut des Bürgermeisters begann ein Glöckchen lautstark zu bimmeln. Es teilte sich den Platz darauf mit Einhundertsechzehn bunt lackierten Abzeichen. Das silberne Glöckchen überschlug sich förmlich in seinem Eifer, gehört zu werden.
   „ Ich kann euch ins Sternenland führen“, verkündete es kategorisch.

Der Hund fürchtete übergangen zu werden und meldete sich ebenso bestimmt zu Wort: „Ich gehe natürlich auch mit. Ohne mich findet ihr doch niemals die richtige Fährte“, behauptete er.

Das Glöckchen meinte: „Gute Idee. Ich werde mich an deinem Schwanz festhalten, so hören die Sternenlandbewohner schon von weitem, dass wir zu ihnen kommen.“

Nun meldete sich auch die am Hosengurt des Bürgermeisters befestigte Taschenlampe zu Wort und bekräftigte: „Natürlich komme ich auch mit. Ihr braucht im Finstern notfalls ein Licht“

Lehrer Gramhans hatte, auf seinen Spazierstock gestützt,  interessiert zugehört. „Das wäre doch eine Möglichkeit, meinen anhänglichen Spazierstock loszuwerden“, überlegte er, denn es war ihm gar nicht recht, dass er nicht mehr ohne ihn aus dem Haus gehen konnte. Kaum griff er nach Mantel und Hut, hing der Stock schon wie eine Klette an seinem Arm und war durch nichts mehr dazu zu bewegen, zuhause zu bleiben.

Herr Gramhans überlegte nicht lange und meldete sich ebenfalls zu Wort: „Bei eurer Reise könnte es geschehen, dass ihr Hilfe benötigt. Ich bin gerne bereit, euch meinen Stock zu überlassen, damit ihr euch wehren könnt, falls ihr euch verteidigen müsstet.“  Der Spazierstock wollte natürlich nicht zugeben, dass er ein Hasenfuß war und betonte großspurig, wie sehr er sich freue, endlich einmal einen richtig gefährlichen Kampf zu erleben.

Erwartungsvoll machte sich die Gruppe auf den Weg. Voran ging der Bernhardiner und schnüffelte eifrig am Boden entlang, um ja nicht vom richtigen Weg abzukommen. Das Glöckchen wurde nicht müde, dazu ein fröhliches Lied zu singen. Dahinter gingen die beiden Kinder. Susis Finger umklammerten den Stock und Peter hielt die Taschenlampe in seiner Hand. Sie brauchten dieses Licht notwendig, da sie einige Male durch dicke Wolkenwände hindurch mussten. Die Gruppe wanderte etwa einen halben Tag, bis ein großes Tor ihnen den Weiterweg versperrte.

Der Stock wurde von den Kindern aufgefordert anzuklopfen. Wild hämmerte er gegen das Tor, das sich daraufhin langsam öffnete. Ein Engel, um dessen Kopf ein wunderschönes Licht leuchtete, begrüßte sie. Sein gütiges Gesicht wurde von einem schneeweißen, langen Bart eingerahmt. Die freundlich blickenden Augen und der lachende Mund nahmen den Kindern sofort alle Angst.

 

Der Engel sagte: „Willkommen im Sternenland. Ich bin der Sternenvater, aber ihr könnt mich Väterchen nennen, das tun hier alle.“ Zögernd traten die Kinder näher. Die Lampe flüsterte andächtig: „ Die Edelsteine auf seinem Umhang leuchten heller, als viele tausend Taschenlampen.“

Die Kinder schauten mit glänzenden Augen auf den Engel und erzählten ihm, weshalb sie gekommen seien. „Wir vermissen den wunderschönen Wünsche-Stern. Er ist nicht mehr am Himmel zu sehen“, sagte Peter weinerlich.

Väterchen kraulte nachdenklich seinen Bart und holte umständlich aus den Falten seines Gewandes einen faustgroßen Bergkristall hervor. Lange Zeit schaute er hinein, dann seufzte er ungläubig: „Eigenartig, eigenartig. Ich sehe Oma Käthes Haus. Daraus kommt ein ganz besonderes Leuchten. Sehen wir gemeinsam nach, weshalb das der Fall ist.“

Der Sternenvater rief nach seinem Schlitten, und es dauerte nur einen Augenblick, da machte ein wunderschöner, von Rentieren gezogener gläserner Schlitten vor ihnen Halt. Die Kinder durften sich vorne neben den Sternenvater setzen, während der Hund, das Glöckchen, der Stock und die Lampe dahinter Platz nahmen. Der Schlitten sauste die Milchstraße entlang, dass dem Spazierstock angst und bange wurde. Bei der vierten Kreuzung bogen sie nach rechts ab und hielten bald darauf vor Oma Käthes Haus.


 
   Väterchen sagte zum Glöckchen: „Jetzt zeig mal, was du kannst. Aber laut, bitte. Die Oma hört nicht mehr so gut, wie früher.“ Da klingelte und schellte Glöckchen, dass es eine helle Freude war.
   Oma Käthe kam neugierig aus dem Haus gelaufen und fragte atemlos: „Was ist los?“
 
   Sie erkannte den Schlitten vom Sternenvater. Freudig schlug sie die Hände über den Kopf zusammen: „Wie schön Väterchen, dass du zu mir kommst. Und Besuch hast du auch gleich mitgebracht“. Sie schaute fragend auf die Kinder. Die beeilten sich höflich zu grüßen. Oma Käthe fuhr sich aufgeregt mit ihren mehlbestäubten Händen ins Haar und rückte ihre weißen Löckchen penibel zurecht. Die kleinen Augen verschwanden fast hinter der großen Brille. In ihrem Gesicht machten sich viele kleine Lachfalten breit und verstärkten den gutmütigen Ausdruck. Über ihren wohlbeleibten Bauch spannte sich eine Schürze, die über und über mit Mehl und Butterflecken bekleckst war.

Der Sternenvater deutete auf die Kinder und sagte: „Oma Käthe, die Kinder sind auf der Suche nach dem Wünsche Stern. Sie sind sehr traurig, weil er seit Tagen nicht mehr leuchtet. Ich habe in meiner Kristallkugel gesehen, dass er möglicherweise bei dir ist. Warum, Oma?“

Einen Augenblick lang stand Oma Käthe regungslos, dann hielt sie sich erschrocken mit beiden Händen den Mund zu, um den erstaunten Ausruf zu unterdrücken. Endlich sagte sie leise, mit einem unsicheren Blick zum Sternenvater: „Oh, ich glaube, da habe ich etwas Schlimmes angestellt. Wie gedankenlos von mir. Verzeih Väterchen, verzeiht mir liebe Kinder“. Die arme Oma konnte sich gar nicht beruhigen.

„Weshalb ist der Stern bei dir, Oma?“ fragte der Sternenvater drängend.
   „Weißt du Väterchen, das Alter! Ich, äh… weiß nicht mehr, wo ich letztes Jahr meine Keksausstecher hingegeben habe“ gab Oma mit roten Wangen verlegenen zu.
  
   Der Sternenvater fragte gedehnt: „Aber Oma Käthe, hast du denn nicht genug Kristalle, die dir bei der Arbeit leuchten? Brauchst du den Wünsche-Stern auch noch dazu?“
Oma antwortete erregt: „Aber ich brauche ihn doch nicht zum Leuchten!“
   „Nicht?“
   „Nein!“
   „Ja, zu was brauchst du ihn denn sonst, Oma?“
   Oma Käthes Antwort war nur ein Flüstern: „Na, zum Kekse ausstechen, wollte ich ihn verwenden. Ich habe meinen sternförmigen Ausstecher nicht gefunden, und da... und da... habe ich eben gedacht, dass ich ihn, ja… mir ihn ausborgen könnte. War wohl keine so gute Idee, glaube ich… “

Die Kinder hielten sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen. Einen Wünsche- Stern als Keksausstecher zu missbrauchen, das konnte nur im Sternenland passieren. Auch Väterchen bemühte sich ein ernstes Gesicht zu machen, obwohl ihm das sichtlich Mühe bereitete.

„Ja Oma Käthe, denkst du denn gar nicht an die vielen Kinder auf der Erde. Wohin sollen sie denn ihre Wünsche an das Christkind schicken, wenn nicht zum Wünsche-Stern?“

Wieder fuhr sich Oma mit den mehligen Händen in ihre Locken und brachte sie gehörig in Unordnung. Zerknirscht gab sie zu: „ Wirklich dumm von mir. Oh und dabei muss ich doch noch so vieles backen, Vanillekipferl und Anisbögen und…“

Väterchen dachte nach, wie Oma zu helfen sei. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Lachen und er schaute lange und ausgiebig auf den Spazierstock. Unter diesem Blick wurde es diesem angst und bange. Väterchen wandte sich an Oma und sagte: „ Ich habe eine tolle Idee. Der Wünsche-Stern muss dringend auf seinen Platz am Himmel zurück, das verstehst du sicherlich, Oma. Aber du bekommst Ersatz, damit du beim Backen Hilfe hast.“

Oma schlug freudig die Hände über den Kopf zusammen und strahlte den Sternenvater erwartungsvoll an. Dieser deutete auf den zitternden Spazierstock. „ Dieser wunderschöne Stock hier freut sich sicher außerordentlich, wenn er dir behilflich sein darf. Sein runder Griff eignet sich hervorragend zum Biegen von Anisbögen. Habe ich Recht, Oma Käthe?“

Ehe der Spazierstock flüchten konnte schnappte ihn sich Oma und verschwand mit ihm glückstrahlend im Haus. Sein Jammern und Betteln waren weithin zu hören. Als er auch noch laut zu schluchzen begann, tat er den Kindern leid, und sie begannen nach den Keksformen der Oma zu suchen. Es dauerte auch gar nicht lange, und sie fanden sie im Korb zwischen Wollresten und alten Knöpfen versteckt.

Der Wünsche-Stern, der sich nicht getraut hatte Oma Käthe zu widersprechen, als sie ihn zu sich beordert hatte, nahm sofort wieder seinen angestammten Platz am Himmel ein. Er war sehr glücklich, dass er wieder für die Kinder leuchten durfte und sie ihm ihre großen und kleinen Wünsche anvertrauen konnten.

Der Sternenvater machte Susi und Peter auf ihren Schutzengel aufmerksam, der bereits auf sie wartete. „Euer Schutzengel bringt euch wohlbehalten wieder nachhause“, sagte er.  „Und nun lebt wohl ihr beiden und Fröhliche Weihnachten!“

Die Kinder bedankten sich herzlich bei ihm und nahmen von Oma Käthe, vom Bernhardiner, dem Glöckchen, der Taschenlampe und dem Spazierstock Abschied. Der Schutzengel streute wieder seine ganz besonderen Sternenkristalle über sie und ehe sie sich versahen, lagen sie wieder friedlich in ihren Betten. Ganz benommen sahen sich die Geschwister an. Hatten sie das alles nur geträumt? Schnell hüpften sie aus dem Bett, liefen zum Fenster, um nach dem Wünsche-Stern zu schauen.

Gott sei Dank, er war wieder da. Strahlend leuchtete er vom Himmel und winkte ihnen sogar freundlich zu.

Liebe Kinder, vergesst nicht heute Abend nachzuschauen, ob ihr ihn auch winken seht!