DIE SPÄTE KINDHEIT JESU
Vielleicht wäre Jesus in Alexandria in den Genuss einer besseren Schulung gekommen als in Galiläa, aber er hätte dort kein so hervorragendes Umfeld gefunden, um mit seinen Lebensproblemen bei geringster erzieherischer Lenkung selbst fertig zu werden und gleichzeitig den riesigen Vorteil zu genießen, in ständigem Kontakt mit einer so großen Zahl von Männern und Frauen sämtlicher Schichten aus allen Teilen der zivilisierten Welt zu sein. Wäre er in Alexandria geblieben, dann wäre seine Erziehung durch Juden und nach ausschließlich jüdischen Richtlinien erfolgt. Die Erziehung und Schulung, die ihm in Nazaret zuteil wurde, bereitete ihn auf ein besseres Verständnis der Heiden vor und vermittelte ihm eine bessere und ausgewogenere Vorstellung von den relativen Vorzügen der östlichen oder babylonischen und der westlichen oder hellenistischen Anschauungen der hebräischen Theologie. 1. JESU NEUNTES JAHR (3 n. Chr.) Man kann wohl kaum sagen, dass Jesus jemals ernsthaft krank war, aber in diesem Jahr machte er zusammen mit seinen Brüdern und seinem Schwesterchen einige der kleineren Kinderkrankheiten durch. Die Schule ging weiter und er war immer noch ein begünstigter Schüler, der jeden Monat eine Woche frei hatte. Er fuhr fort, dies Zeit zu ungefähr gleichen Teilen mit Ausflügen in die Nachbarstädte zusammen mit seinem Vater, mit Aufenthalten und seines Onkels Bauernhof südlich von Nazaret und beim Fischfang außerhalb Magdalas zu verbringen. Der bis dahin ernsteste Zwischenfall in der Schule ereignete sich spät im Winter, als Jesus es wagte, den Chazan bezüglich der Lehre herauszufordern, alle Statuen, Bilder und Zeichnungen seien götzendienerischer Natur. Jesus hatte viel Freude am Zeichnen von Landschaften und am Modellieren einer großen Zahl von Gegenständen in Töpferton. All dies war durch das jüdische Gesetz strikt verboten, aber bis jetzt hatte er es so gut verstanden, die Einwände seiner Eltern zu entkräften, dass sie ihm erlaubt hatten, mit diesen Tätigkeiten fortzufahren. Neue Unruhe entstand in der Schule, als einer der eher zurückgebliebenen Schüler Jesus dabei ertappte, wie er gerade mit Kohle ein Porträt des Lehrers auf den Boden des Klassenzimmers zeichnete. Da war es, sonnenklar, und mehrere Älteste hatten es sich angesehen, bevor ein Komitee Joseph aufsuchte, um ihn aufzufordern, etwas zu unternehmen, um der Gesetzlosigkeit seines ältesten Sohnes ein Ende zu machen. Obwohl dies nicht das erste Mal war, dass Klagen über das Tun ihres vielseitigen und ungestümen Kindes zu Joseph und Maria gelangten, war dies doch die ernsteste aller bis dahin gegen ihn erhobenen Beschuldigungen. Jesus hörte eine Zeit lang den Anklagen gegen eine künstlerischen Versuche zu, während er auf einem großen Stein gleich außerhalb der Hintertür saß. Er war darüber aufgebracht, dass man seinen Vater für seine angeblichen Missetaten tadelte. Also ging er hinein und trag seinen Anklägern furchtlos gegenüber. Die Ältesten gerieten in Verlegenheit. Die einen neigten dazu, das Ganze mit Humor zu nehmen, während einer oder zwei zu denken schienen, der Knabe sei frevlerisch, wenn nicht gar gotteslästerlich. Joseph war verdutzt, Maria empört, aber Jesus bestand darauf, angehört zu werden. Er durfte sprechen, verteidigte mutig seinen Standpunkt und erklärte mit vollendeter Selbstkontrolle, er werde sich in dieser wie in allen anderen strittigen Angelegenheiten an die Entscheidung seines Vaters halten. Und die Abordnung der Ältesten ging schweigend hinaus. Maria versuchte Joseph dahin zu bringen, es Jesus zu erlauben, zu Hause in Ton zu modellieren, wenn er verspreche, in der Schule nicht mehr mit so fragwürdigen Aktivitäten fortzufahren. Aber Joseph fühlte sich genötigt zu entscheiden, dass die rabbinische Interpretation des zweiten Gebotes maßgebend sei. Von diesem Tag an zeichnete oder modellierte Jesus nie wieder etwas, solange er im Hause seines Vaters wohnte. Aber er war nicht überzeugt, etwas Schlechtes getan zu haben, und das Aufgeben eines so geliebten Zeitvertreibs war eine der schweren Prüfungen seines jungen Lebens. In der zweiten Junihälfte stieg Jesus mit seinem Vater zum ersten Mal auf den Gipfel des Berges Tabor. Es war ein klarer Tag, und die Sicht war großartig. Es schien diesem neunjährigen Knaben, als hätte er wirklich die ganze Welt mit Ausnahme Indiens, Afrikas und Roms gesehen.
Jesu zweite Schwester Martha wurde am Donnerstag, dem 13. September, abends geboren. Drei Wochen nach ihrer Ankunft begann Joseph, der sich einige Zeit zu Hause aufhielt, mit einem Hausanbau, einem mit einer Werkstatt kombinierten Schlafraum. Für Jesus wurde eine kleine Werkbank angefertigt, und zum ersten Mal besaß er eigene Werkzeuge. Während vieler Jahre arbeitete er gelegentlich an dieser Werkbank und wurde äußerst geschickt in der Herstellung von Jochen. Dieser und der nächste Winter war seit vielen Jahrzehnten die kältesten in Nazaret. Jesus hatte auf den Bergen schon Schnee gesehen, und einige Male war auch in Nazaret Schnee gefallen, der nur kurze Zeit am Boden liegen blieb. Aber vor diesem Winter hatte er noch nie Eis gesehen. Die Tatsache, dass Wasser fest, flüssig und als Dampf existieren konnte – er hatte lange über den aus den Kochtöpfen entweichenden Dampf nachgesonnen – veranlasste den Knaben, sehr viel über die physische Welt und ihre Beschaffenheit nachzudenken. Und doch war die in diesem heranwachsenden Jungen verkörperte Persönlichkeit die ganze Zeit über der tatsächliche Schöpfer und Organisator all dieser Dinge in einem ausgedehnten Universum. Das Klima von Nazaret war nicht hart. Der Januar war der kälteste Monat mit einer mittleren Temperatur von ca. 10°. Im Juli und August, den heißesten Monaten, lag die Temperatur zwischen 24° und 32°. Von den Bergen über den Jordan bis zum Tal des Toten Meeres reichte das Klima Palästinas von Kälte bis zu sengender Hitze. So waren die Juden in gewissem Sinne dafür ausgerüstet, in jedwedem der vielfältigen Klimas der Welt zu leben. Auch während der heißesten Sommermonate blies meist von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends eine kühle Meeresbrise von Westen her. Aber von Zeit zu Zeit fegten schreckliche heiße Winde aus der östlichen Wüste über ganz Palästina hinweg. Diese heißen Sturmwinde kamen gewöhnlich im Februar und März auf, kurz vor Ende der Regenzeit. Damals fiel der Regen in erfrischenden Schauern von November bis April, aber es regnete nicht ununterbrochen. Es gab in Palästina nur zwei Jahreszeiten, Sommer und Winter, die trockene und die Regenperiode. Im Januar begannen die Blumen zu blühen und Ende April war das ganze Land ein einziger großer Blumengarten. Auf dem Bauernhof seines Onkels half Jesus im Mai dieses Jahres zum ersten Mal bei der Getreideernte. Bevor er dreizehn Jahre alt war, hatte er es fertig gebracht, sich mit Ausnahme von Metallarbeit praktisch mit jeder von Männern und Frauen um Nazaret herum ausgeübten Tätigkeit in etwa bekannt zu machen, und als er älter war, nach seines Vaters Tod, verbrachte er mehrere Monate in einer Schmiede. Bei flauem Geschäftsgang und geringem Karawanenbetrieb machte Jesus mit seinem Vater viele geschäftliche oder Vergnügungsausflüge in die Nachbarorte Kana, Endor und Nain. Schon als Knabe besuchte er häufig Sepphoris, das nur etwa sechs Kilometer nordwestlich von Nazaret lag und von 4 v. Chr. bis ungefähr 25 n. Chr. die Hauptstadt Galiläas und eine der Residenzen des Herodes Antipas war. Jesus wuchs körperlich, intellektuell, geistig und in gesellschaftlicher Hinsicht. Seine Ausflüge außer Haus trugen viel dazu bei, ihm ein besseres und großzügigeres Verständnis für seine eigene Familie zu vermitteln, und unterdessen begannen sogar seine Eltern, während sie ihn lehrten, von ihm zu lernen. Jesus war ein selbständiger Denker und ein begabter Lehrer, sogar schon in seiner Jugend. Er stieß sich ständig am so genannten „mündlichen Gesetz“, aber er suchte sich immer den Geflogenheiten seiner Familie anzupassen. Er verstand sich mit den gleichaltrigen Kindern recht gut, aber die Langsamkeit ihres Denkens entmutigte ihn oft. Noch nicht zehn Jahre alt, wurde er der Anführer einer Gruppe von sieben Jungen, die zusammen eine Gemeinschaft zur Erwerbung der Eigenschaften des Mannesalters – in körperlicher, intellektueller und religiöser Hinsicht – bildeten. Es gelang Jesus, diese Jungen für viele neue Spiele und verschiedene verbesserte Methoden körperlicher Erholung zu gewinnen.
2. DAS ZEHNTE JAHR (4 n. Chr.)
Am 5. Juli, dem ersten Sabbat des Monats, während er mit seinem Vater durch die Gegend streifte, drückte Jesus zum ersten Mal Gefühle und Ideen aus, die darauf hinwiesen, dass er sich der ungewöhnlichen Natur seiner Lebensaufgabe bewusst wurde. Joseph hörte den bedeutsamen Worten seines Sohnes aufmerksam zu, sagte aber nur wenig dazu und gab selber keine Auskunft. Am nächsten Tag hatte Jesus mit seiner Mutter ein ähnliches, aber längeres Gespräch. Maria hörte den Erklärungen des Jungen in gleicher Weise zu, aber auch sie gab keinerlei Auskunft. Es dauerte fast zwei Jahre, bevor Jesus erneut mit seinen Eltern über die zunehmende Offenbarung im eigenen Bewusstsein bezüglich der Natur seiner Persönlichkeit und der Art seiner Sendung auf Erden sprach.
Im August trat er in die Schule für Fortgeschrittene der Synagoge ein. Hier sorgte er ständig für Aufregung durch die Fragen, die er hartnäckig stellte. In wachsendem Maße sorgte er in ganz Nazaret für mehr oder weniger Unruhe. Seine Eltern waren nicht willens, ihm diese beunruhigenden Fragen zu verbieten, und sein Hauptlehrer war über die Neugier, das Verständnis und den Wissenshunger des Junge höchst verblüfft.
Die Gefährten Jesu sahen in seinem Verhalten nichts Übernatürliches. Er war in fast jeder Hinsicht genau wie sie. Sein Interesse am Lernen war etwas überdurchschnittlich, aber nicht völlig ungewöhnlich. Tatsächlich stellte er mehr Fragen in der Schule als andere aus seiner Klasse.
Sein ungewöhnlichster und auffallendster Charakterzug war vielleicht, dass er es ablehnte, für seine Rechte zu kämpfen. Da er doch ein für sein Alter so gut entwickelter Knabe war, kam es seinen Spielgefährten merkwürdig vor, dass er eine Abneigung hatte, sich selber zu verteidigen, sogar wenn er Unrecht erlitt oder persönlich misshandelt wurde. Es fügte sich, dass er dank seiner Freundschaft mit Jakob, einem um ein Jahr älteren Nachbarsjungen, wegen dieser Eigenheit nicht viel zu leiden hatte. Dieser war der Sohn des Steinmetzen, eines Geschäftspartners Josephs. Jakob war ein großer Bewunderer von Jesus und machte es sich zur Aufgabe, darüber zu wachen, dass niemand es wagte. Jesu Abneigung gegen körperlichen Kampf auszunützen. Mehrere Male griffen ältere und rohe Jugendliche Jesus an, sich auf seine bekannte Fügsamkeit verlassen, erlitten aber jedes Mal rasche und sichere Vergeltung durch die Hände seines selbsternannten Beschützers und immer bereiten Verteidigers Jakob, des Steinmetzensohnes. Jesus war der allgemein anerkannte Anführer derjenigen Jungen von Nazaret, die für die höheren Ideale ihrer Zeit und Generation eintraten. Seine jungen Gefährten liebten ihn wirklich, nicht nur, weil er Gerechtigkeitsgefühl besaß, sondern auch, weil ihm eine seltene und verständnisvolle Art von Sympathie zu eigen war, die Liebe ahnen ließ und an eine verhaltene Form von Mitgefühl grenzte. In diesem Jahr begann er, eine offenkundige Vorliebe für die Gesellschaft älterer Personen zu zeigen. Er liebte es, sich mit Älteren über kulturelle, erzieherische, soziale, wirtschaftliche, politische und religiöse Dinge zu unterhalten, und die Tiefe seiner Gedankengänge und die Schärfe seiner Beobachtung bezauberten seine erwachsenen Gesprächspartner so sehr, dass sie ihn nur zu gern für ein Gespräch aufsuchten. Bis zu der Zeit, da er für den Unterhalt der Familie verantwortlich wurde, bemühten sich seine Eltern stets, ihn dahingehend zu beeinflussen, anstelle der Gesellschaft älterer und kenntnisreicherer Leute, für die er eine solche Vorliebe bekundete, diejenige von Gleichaltrigen oder nur wenig Älteren zu suchen. Spät in diesem Jahr war er zwei Monate lang mit seinem Onkel auf Fischfang auf dem See Genezareth und war dabei sehr erfolgreich. Noch vor Erreichen des Mannesalters war er ein erfahrener Fischer geworden. Er entwickelte sich körperlich weiter; in der Schule war er ein fortgeschrittener und privilegierter Schüler; zu Hause kam er mit seinen jüngeren Brüdern und Schwestern recht gut aus, wobei er den Vorteil besaß, dreieinhalb Jahre älter als das älteste der anderen Kinder zu sein. Man war ihm in Nazaret freundlich gesinnt mit Ausnahme der Eltern einiger der schwerfälligeren Kinder, die ihm oft vorlautes Wesen und Mangel an angemessener Bescheidenheit und der Jugend geziemender Zurückhaltung vorwarfen. Er zeigte eine wachsende Neigung, die Spiele seiner jungen Gefährten in ernstere und überlegtere Bahnen zu lenken. Er war ein geborener Lehrer und konnte ein entsprechendes Verhalten einfach nicht unterdrücken, auch wenn er vermeintlich ganz beim Spiel war. Joseph begann früh damit, Jesus über die verschiedenen Möglichkeiten zu informieren, wie man seinen Lebensunterhalt verdienen könne, wobei er ihm die Vorteile der Landwirtschaft gegenüber Gewerbe und Handel erklärte. Galiläa war eine schönere und wohlhabendere Gegend als Judäa, und die Lebenskosten betrugen etwa ein Viertel von denen Jerusalems und Judäas. Es war eine Provinz mit Bauerndörfern und blühenden, gewerbetreibenden Orten und zählte mehr als 200 Städte mit über 5.000 und 30 mit über 15.ooo Einwohnern. Auf seinem ersten Ausflug mit seinem Vater, den sie unternahmen, um das Fischereigewerbe am See Genezareth zu beobachten, hatte sich Jesus fast entschlossen, Fischer zu werden; aber seine enge Beziehung zum Beruf seines Vaters beeinflusste ihn später, Zimmermann zu werden, und noch später führte ihn das Zusammenwirken verschiedener Einflüsse zu der endgültigen Wahl, ein religiöser Lehrer einer neuen Art zu werden.
3. DAS ELFTE JAHR (5 n. Chr.) Das ganze Jahr hindurch unternahm Jesus mit seinem Vater weitere Ausflüge in die Umgebung; er hielt sich aber auch des Öfteren auf dem Bauernhof seines Onkels auf und ging gelegentlich nach Magdala hinüber, um mit dem anderen Onkel, der seinen Wohnsitz in der Näher dieser Stadt hatte, auf Fischfang zu gehen. Oft waren Joseph und Maria versucht, Jesus in irgendeiner Weise besonders zu begünstigen oder anderswie ihr Wissen zu verraten, dass er ein Kind der Verheißung, ein Sohn der Vorsehung war. Aber beide Eltern waren außerordentlich weise und klug in all diesen Dingen. Die wenigen Male, da sie ihn irgendwie, und sei es auch nur andeutungsweise, bevorzugten, wies der Knabe sofort jegliche besondere Behandlung zurück. Jesus brachte beträchtliche Zeit im Karawannen-Versorgungsladen zu und erwarb durch die Unterhaltung mit Reisenden aus aller Herren Länder eine für sein Alter erstaunliche Menge an Kenntnissen über internationale Angelegenheiten. Dies war das letzte Jahr, in dem er sich ausgiebig freiem Spiel und kindlicher Fröhlichkeit hingeben konnte. Von dieser Zeit an nahmen die Schwierigkeiten und Verantwortlichkeiten im Leben dieses Jungen sehr rasch zu. Am Mittwoch, dem 24. Juni 5 n. Chr. abends wurde Jude geboren. Die Geburt dieses siebenten Kindes war mit Komplikationen verbunden. Maria war mehrere Wochen lang so sehr krank, dass Joseph zu Hause blieb. Jesus war vollauf beschäftigt mit Besorgungen für seinen Vater und mit vielen Pflichten, die sich aus der ernsthaften Erkrankung seiner Mutter ergaben. Nie wieder wurde es diesem Jungen möglich, zu dem kindlichen Verhalten seiner früheren Jahre zurückzukehren. Von der Krankheit seiner Mutter an – gerade bevor er elf Jahre alt wurde – war er gezwungen, die Verpflichtungen des erstgeborenen Sohnes zu übernehmen, und zwar ein oder zwei Jahre früher, als diese Last normalerweise auf seine Schultern hätte fallen sollen. Der Chazan verbrachte jede Woche einen Abend mit Jesus, um ihm beim Studium der hebräischen Schriften zu helfen. Er nahm äußerst regen Anteil an den Fortschritten seines viel versprechenden Schülers und war deshalb gewillt, ihm in mancherlei Weise beizustehen. Dieser jüdische Pädagoge übte einen großen Einfluss auf seinen wachsenden Verstand aus, aber er konnte nie begreifen, wieso Jesus gegenüber allen seinen Anregungen, nach Jerusalem zu gehen und dort seine Studien unter Leitung der gelehrten Rabbiner fortzusetzen, so indifferent blieb. Etwa Mitte Mai begleitete der Knabe seinen Vater auf einem geschäftlichen Gang nach Skythopolis, der bedeutendsten griechischen Stadt der Dekapolis und einstigen hebräischen Siedlung Beth-Shean. Unterwegs erzählte Joseph ausführlich die Geschichte von König Saul und den Philistern sowie die späteren Ereignisse von Israels bewegter Vergangenheit. Jesus war gewaltig beeindruckt von der Sauberkeit und wohlgeordneten Anlage dieser sogenannten heidnischen Stadt. Er bestaunte das Freilufttheater und bewunderte den prächtigen, dem Kult „heidnischer“ Götter geweihten Marmortempel. Joseph war durch die Begeisterung des Knaben sehr beunruhigt und versuchte, diesen günstigen Eindrücken entgegenzuwirken, indem er die Schönheit und Größe des jüdischen Tempels in Jerusalem pries. Jesus hatte diese prachtvolle griechische Stadt oft neugierig von der Anhöhe von Nazaret aus betrachtet und sich häufig nach den Ausgedehnten öffentlichen Anlagen und den reichverzierten Bauten erkundigt, aber sein Vater hatte stets versucht, der Beantwortung dieser Fragen auszuweichen. Nun standen sie den Schönheiten dieser heidnischen Stadt unmittelbar gegenüber, und Joseph konnte die Fragen Jesu ganz einfach nicht länger überhören.
Es traf sich, dass gerade zu dieser Zeit im Amphitheater von Skythopolis unter den griechischen Städten der Dekapolis die jährlichen Wettspiele und öffentlichen Darbietungen physischer Mutproben ausgetragen wurden, und Jesus drang in seinen Vater, dass er ihn zu den Spielen mitnehme, und zwar so heftig, dass Joseph es ihm nicht abschlagen konnte. Jesus wurde von den Spielen gepackt und ging ganz im Geist dieser Vorführungen körperlicher Schulung und athletischer Gewandtheit auf. Joseph war über die Begeisterung seines Sohnes angesichts dieser Zurschaustellung „heidnischer“ Prahlerei unbeschreiblich bestürzt. Nachdem die Spiele vorüber waren, erlebte Joseph die Überraschung seines Lebens, als er hören musste, wie Jesus diese guthieß und zu bedenken gab, es wäre gut für die jungen Männer Nazarets, wenn auch sie in den Genuss solcher gesunder körperlicher Übungen im Freien kämen. Joseph sprach ernsthaft und lange mit Jesus über die schlimme Natur solcher Praktiken, aber er wusste genau, dass sein Sohn nicht überzeugt war.
Das einzige Mal, dass Jesus seinen Vater gegen sich aufgebracht sah, war an jenem Abend im Zimmer in der Erberge, als Jesus im Laufe der Gespräche das geltende jüdische Denken soweit vergaß, dass er vorschlug, sie sollten nach Hause gehen und sich für den Bau eines Amphitheaters in Nazaret einsetzen. Als Joseph seinen erstgeborenen Sohn solch unjüdische Gefühle ausdrücken hörte, verließ ihn seine übliche Gelassenheit. Er packte Jesus an den Schultern und rief zornig: „Das ich dich nie wieder, solange du lebst, einen so verwerflichen Gedanken aussprechen höre.“ Jesus war über den Gefühlsausbruch seines Vaters bestürzt; er hatte selber nie zuvor die Wucht der Empörung seines Vaters zu spüren bekommen und war unbeschreiblich verblüfft und schockiert. Er erwiderte nur: „Sehr gut, mein Vater, es soll so sein.“ Und nie wieder zu Lebzeiten seines Vaters erwähnte er auch nur andeutungsweise die Spiele und übrigen athletischen Aktivitäten der Griechen.
Später sah Jesus das griechische Amphitheater in Jerusalem und erfuhr, wie hassenswert solche Dinge vom jüdischen Standpunkt aus waren. Dessen ungeachtet bemühte er sich zeitlebens, die Idee gesunder Erholung in seine persönlichen Pläne und, soweit jüdischer Brauch es zuließ, auch in das spätere Programm regelmäßiger Aktivitäten seiner 12 Apostel aufzunehmen. Am Ende seines 11. Jahres war Jesus ein kräftiger, gut entwickelter, leicht humorvoller und recht unbeschwerte Junge, aber von diesem Jahr an gab er sich mehr und mehr seltsamen Perioden tiefer Versenkung und ernster Betrachtung hin. Er dachte viel darüber nach, wie er seinen Verpflichtungen gegenüber seiner Familie nachkommen und gleichzeitig der Berufung zu seiner Weltsendung treu bleiben konnte; schon hatte er begriffen, dass sein Wirken sich nicht nur auf die Besserung des jüdischen Volkes zu beschränken hatte.
4. DAS ZWÖLFTE JAHR (6 n. Chr.) Dies war ein ereignisreiches Jahr in Jesu Leben. In der Schule machte er weiterhin Fortschritte und beobachtete unermüdlich die Natur, während er sich immer eingehender mit den Methoden beschäftigte, mit denen die Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen. Er begann, regelmäßig zu Hause in der Werkstatt zu arbeiten und erhielt die Erlaubnis, über seinen Verdienst frei zu verfügen, eine für eine jüdische Familie sehr ungewöhnliche Übereinkunft. In diesem Jahr lernte er auch, dass es weiser war, solche Angelegenheiten als Familiengeheimnis zu behandeln. Er wurde sich bewusst, wodurch er im Dorf für Aufregung gesorgt hatte und wurde deshalb immer zurückhaltender, indem er alles verbarg, was Anlass zu der Meinung hätte geben können, er sei anders als seine Gefährten. Während dieses Jahres durchlebte er manche Zeit der Unsicherheit, wenn nicht gar richtigen Zweifels bezüglich der Natur seiner Sendung. Sein sich natürlich entwickelnder menschlicher Verstand erfasste die Tatsache seiner Doppelnatur noch nicht ganz. Der Umstand, dass er nur eine einzige Persönlichkeit besaß, machte es seinem Bewusstsein schwer, den doppelten Ursprung der Faktoren zu erkennen, die die Natur ausmachten, mit der ebendiese Persönlichkeit verbunden war. Von dieser Zeit an hatte er im Umgang mit seinen Brüdern und Schwestern eine glücklichere Hand. Er wurde immer taktvoller, war stets mitfühlend und um ihr Wohlergehen und Glück besorgt und erfreute sich guter Beziehungen zu ihnen bis zum Beginn seines öffentlichen Wirkens. Um es genauer zu sagen: Er verstand sich ganz ausgezeichnet mit Jakob, Miriam und den beiden jüngeren (damals noch nicht geborenen) Kindern Amos und Ruth. Mit Martha kam er stets ziemlich gut zurecht. Wenn es zu Hause irgendwelche Schwierigkeiten gab, dann entstanden sie meist aus Reibereien mit Joseph und insbesondere mit Jude. Die Erziehung Jesu, der auf nie da gewesene Weise Göttliches und Menschliches in sich vereinigte, war für Joseph und Maria eine schwierige Erfahrung, und sie verdienen hohes Lob für die gewissenhafte und erfolgreiche Wahrnehmung ihrer elterlichen Pflichten. Immer stärker kam es Jesu Eltern zum Bewusstsein, dass etwas Übermenschliches in diesem ältesten Sohn wohnte, aber nie kam ihnen auch nur die leiseste Ahnung, dass dieser Sohn der Verheißung wirklich und wahrhaftig der Schöpfer dieses Lokaluniversums von Dingen und Wesen war. Joseph und Maria lebten und starben, ohne je zu erfahren, dass ihr Sohn Jesus tatsächlich der in einem sterblichen Körper inkarnierte Schöpfer des Universums war. In diesem Jahr beschäftigte Jesus sich mehr als je zuvor mit Musik, und er fuhr fort, seine Brüder und Schwestern zu Hause zu unterrichten. Ungefähr um diese Zeit kam ihm der Unterschied zwischen den Standpunkten Josephs und Marias hinsichtlich der Natur seiner Sendung klar zu Bewusstsein. Er sann viel über die unterschiedlichen Auffassungen seiner Eltern nach, da er ihren Auseinandersetzungen oft zuhörte, wenn sie ihn in tiefem Schlaf wähnten. Er neigte immer stärker der Anschauung seines Vaters zu, und seiner Mutter war die schmerzliche Erkenntnis beschieden, dass ihr Sohn in Dingen, die mit seiner Laufbahn zu tun hatten, ihre Führung schrittweise zurückwies. Und im Laufe der Jahre vertiefte sich diese Kluft zwischen ihren Auffassungen. Maria verstand die Bedeutung von Jesu Sendung immer weniger, und immer gekränkter war diese gute Mutter darüber, dass ihr Lieblingssohn ihre teuersten Erwartungen nicht erfüllte. Der Glaube Josephs an die geistige Natur der Sendung Jesu wuchs. Und wenn es da nicht andere und wichtigere Faktoren gegeben hätte, könnte man es al bedauerlich bezeichnen, dass er die Erfüllung seiner Idee von Jesu Mission auf Erden nicht erleben durfte. Während seines letzten Schuljahres, als 12jähriger, lehnte sich Jesus bei seinem Vater gegen den jüdischen Brauch auf, bei jedem Betreten und Verlassen des Hauses das Stück an den Türpfosten genagelte Pergaments zu berühren und anschließend den Finger, welcher das Pergament berührt hatte, zu küssen. Als Teil dieses Rituals pflegte man zu sagen: „Der Herr wird unseren Ausgang und unseren Eingang behüten, von jetzt an bis in alle Ewigkeit.“ Joseph und Maria hatten Jesus zu wiederholten Malen die Gründe dargelegt, weshalb man weder Statuen herstellen, noch Bilder zeichnen durfte, und ihm erklärt, dass solche Werke zu götzendienerischen Zwecken missbraucht werden könnten. Wenn Jesus auch ihr Verbot von Statuen und Abbildungen nicht ganz zu begreifen vermochte, so besaß er doch einen hoch entwickelten Sinn für Folgerichtigkeit und wies deshalb gegenüber seinem Vater auf die grundsätzlich götzendienersiche Natur dieses dem Türpfostenpergament bekundeten Gehorsams hin. Nach diesen Einwänden Jesu entfernte Joseph das Pergament. Im Laufe der Zeit unternahm Jesus viel, um ihre Praxis religiöser Formen wie Familiengebete und andere Bräuche zu verändern. In Nazaret war es möglich, manche derartige Dinge zu tun, da seine Synagoge unter dem Einfluss einer liberalen Rabbinerschule stand, deren beispielhafter Vertreter der berühmten Lehrer Jose aus Nazaret war. Während dieses und der beiden folgenden Jahre litt Jesus unter großer Gedankenqual infolge seines ständigen Bemühens, seine persönlichen Ansichten über Religionsausübung und soziale Konventionen den festverankerten Meinungen seiner Eltern anzupassen. Er wurde gepeinigt durch den Konflikt zwischen dem inneren Druck, seinen eigenen Überzeugungen treu zu bleiben und der gewissenhaften Beflissenheit, sich seinen Eltern pflichtgetreu unterzuordnen. Sein größter Konflikt bestand zwischen zwei großen Geboten, die seinen jugendlichen Sinn am meisten beherrschten. Das eine hieß: „Stehe treu zu dem, was deine höchsten Überzeugungen von Wahrheit und Rechtschaffenheit dir zu tun gebieten.“ Das andere hieß: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, denn sie haben dich gezeugt, ernährt und erzogen.“ Er drückte sich indessen nie vor der Verantwortung, die notwendigen täglichen Anpassungen zwischen diesen Bereichen der Treue zu seinen persönlichen Überzeugungen und der Pflicht gegenüber der Familie vorzunehmen, und er erlebte die Genugtuung, zu einer immer harmonischeren Verschmelzung, persönlicher Überzeugungen und familiärer Verpflichtungen zu gelangen und diese in einem meisterhaften Konzept von Gruppensolidarität, fußten auf Treue, Gerechtigkeitssinn, Toleranz und Liebe, zu vereinen.
5. SEIN DREIZEHNTES JAHR (7 n. Chr.) In diesem Jahr ging der Junge aus Nazaret vom Knabenalter zum Jünglingsalter über; der Stimmbruch begann und andere Zeichen an Geist und Körper kündeten den herannahenden Status des Mannesalters an. Am Sonntagabend, dem 9. Januar 7 n. Chr., wurde sein kleiner Bruder Amos geboren. Jude war noch nicht zwei Jahre alt und das Schwesterchen Ruth noch nicht geboren. Man mag daraus ersehen, dass Jesus eine beträchtliche Schar kleiner Kinder zu betreuen hatte, als sein Vater im folgenden Jahr tödlich verunglückte. Ungefähr Mitte Februar gelangte Jesus menschlich zur Gewissheit, dass er dazu ausersehen sein, auf Erden eine Sendung zur Erleuchtung der Menschheit und zur Offenbarung Gottes auszuführen. Im Geist dieses Jungen, der nach außen hin ein durchschnittlicher jüdischer Knabe von Nazaret zu sein schien, kam es zu bedeutenden Entscheidungen im Zusammenhang mit weitreichenden Plänen. Das intelligente Leben von ganz Nebadon sah wie gebannt und staunend zu, als all dies sich im Denken und Handeln des nun zum Jüngling gewordenen Zimmermannssohns zu entfalten begann. Am 20. März 7 n. Chr., dem ersten Tag der Woche, bestand Jesus die Abschlussprüfung an der örtlichen Schule, die der Synagoge von Nazaret angeschlossen war. Dies war ein großer Tag im Leben jeder ehrgeizig strebenden jüdischen Familie, der Tag, an dem der erstgeborene Sohn zum „Sohn des Gebots“ und zum freigekauften Erstgeborenen Gottes, des Herrn Israels, erklärt wurde, zum „Kind des Allerhöchsten“ und zum Diener des Herrn der ganzen Erde. Am Freitag zuvor war Joseph von Sepphoris, wo er die Arbeiten an einem neuen öffentlichen Gebäude leitete, herübergekommen, um bei diesem frohen Ereignis zugegen zu sein. Jesu Lehrer glaubte zuversichtlich, dass sein aufgeweckter und fleißiger Schüler zu einer außergewöhnlichen Laufbahn, zu einer hervorragenden Sendung bestimmt sei. Die Ältesten waren trotz all ihrer Schwierigkeiten mit den nonkonformistischen Neigungen Jesu auf den Knaben sehr stolz und hatten schon begonnen, Pläne zu schmieden, um Jesus die Fortsetzung seiner Ausbildung an den berühmten hebräischen Akademien in Jerusalem zu ermöglichen. Je mehr Jesus von Zeit zu Zeit über diese Pläne sprechen hörte, umso sicherer wurde er, dass er nie nach Jerusalem gehen würde, um bei den Rabbinern zu studieren. Aber er ahnte kaum etwas von der so schnell herannahenden Tragödie, die dafür sorgen würde, dass alle derartigen Pläne fallen gelassen werden mussten; denn bald würde er die Verantwortung für den Unterhalt und die Führung einer großen Familie zu übernehmen haben, die neben seiner Mutter und ihm selber bald aus fünf Brüdern und drei Schwestern bestehen sollte, Jesus machte mit dem Aufziehen dieser Familie eine umfassendere und längere Erfahrung, als es Joseph, seinem Vater, beschieden war; und er wurde den Ansprüchen gerecht, die er später an sich selbst stellte: für diese – seine – so plötzlich von Leid heimgesuchte und so unerwartet verwaiste Familie ein weiser, geduldiger, verständnisvoller und wirksamer Lehrer und ältester Bruder zu werden.
6. DIE REISE NACH JERUSALEM Jesus, der nun die Schwelle des Jünglingsalters erreicht und seine Abschlussprüfung an der Synagogenschule in aller Form bestanden hatte, erfüllte die Voraussetzungen, um sich mit seinen Eltern nach Jerusalem zu begeben und dort mit ihnen an seinem ersten Passafest teilzunehmen. Das Passafest dieses Jahres fiel auf Samstag den 9. April 7 n. Chr. Eine ansehnliche Schar (103 Personen) war am Montagmorgen, dem 4. April, bereit, sich von Nazaret nach Jerusalem aufzumachen. Sie reisten südwärts in Richtung Samarien, bogen aber in Jesreel nach Osten ab und gingen um den Berg Ailboa herum ins Jordantal, um eine Durchquerung Samariens zu vermeiden. Joseph und seine Familie wären gerne auf dem Weg des Jakobsbrunnens und Bethels durch Samarien gezogen, aber da es den Juden widerstrebte, mit den Samaritanern zu tun zu haben, entschlossen sie sich, zusammen mit ihren Nachbarn den Weg durchs Jordantal zu gehen. Der viel gefürchtete Archelaus war abgesetzt worden, und sie hatten kaum etwas zu befürchten, wenn sie Jesus nach Jerusalem mitnahmen. 12 Jahre waren vergangen, seit Herodes der Erste dem Kind von Betlehem nach dem Leben getrachtet hatte, und niemand wäre jetzt noch auf den Gedanken gekommen zwischen jenem Ereignis und dem unbekannten Jungen aus Nazaret eine Verbindung herzustellen. Sehr bald, noch vor der Wegscheide von Jezreel, zogen sie am alten Dorf Sumen zu ihrer Linken vorüber, und wiederum hörte Jesus vom schönsten Mädchen ganz Israels erzählen, das einst hier gelebt, und von den wunderbaren Taten, die Elisa hier vollbracht hatte. Als sie an Jesreel vorüberkamen, erzählten Jesu Eltern die Geschichte Achabs und Isebels und die Taten Jehus. Als sie den Berg Bilboa umwanderten, sprachen sie viel über Saul, der sich am Abhang dieses Bergs das Leben genommen hatte, über König David und das mit diesem historischen Ort Verbundene. Während sie so am Fuß des Gilboa entlang wanderten, konnten die Pilger zu ihrer Linken die griechische Stadt Skythopolis sehen. Sie wurden der Marmorgebäude aus der Ferne ansichtig, aber näherten sich der heidnischen Stadt nicht aus Furcht, sich zu verunreinigen und danach nicht an den bevorstehenden feierlichen und heiligen Passafesthandlungen in Jerusalem teilnehmen zu können. Maria konnte nicht verstehen, wieso weder Joseph noch Jesus von Skythopolis sprechen wollten. Sie wusste nichts von ihrer Auseinandersetzung im vorausgegangenen Jahr, da sie ihr nie etwas von diesem Vorkommnis erzählt hatten. Die Straße führte nun geradewegs ins tropische Jordantal hinunter, und bald bot sich dem staunenden Auge Jesu der verschlungene und windungsreiche Lauf des Jordans dar, der mit seinen glitzernden und gekräuselten Wassern zum Toten Meer hinabfloss. Auf ihrer Wanderung gegen Süden durch dieses tropische Tal legten sie ihre wärmere Kleidung ab und freuten sich über die üppigen Kornfelder und herrlichen, mit rosa Blüten beladenen Oleandersträucher, während weit im Norden der gewaltige, schneebedeckte Berg Hermon aufragte und majestätisch auf das historische Tal hinunterblickte. Seit Skythopolis waren sie mehr als drei Stunden gewandert, als sie zu einer sprudelnden Quelle kamen, so sie sich unter dem Sternenübersäten Himmel für die Nacht niederließen. An ihrem zweiten Reisetag kamen sie an der Stelle vorbei, wo der Jabbok aus Osten in den Jordan einmündet, und, mit den Augen dem Flusstal nach Osten folgend, ließen sie die Tage Gideons aufleben, als die Midianiter in diese Gegend einfielen und das Land überrannten. Gegen Ende des zweiten Reisetages lagerten sie am Fuße des Sartaba, des höchsten das Jordantal überblickenden Berges. Auf seinem Gipfel stand die alexandrinische Festung, wo Herodes eine seiner Frauen gefangen gehalten und seine zwei erwürgten Söhne begraben hatte. Am dritten Tag kamen sie an zwei kurze Zeit zuvor von Herodes erbauten Dörfern vorüber, deren erlesene Architektur und schöne Palmengärten ihnen auffielen. Mit Einbruch der Nacht erreichten sie Jericho, wo sie bis zum nächsten Morgen blieben. An diesem Abend wanderten Joseph, Maria und Jesus zur gut drei Kilometer entfernten Stelle des alten Jericho hinaus, wo Josua, nach dem Jesus benannt war, laut jüdischer Tradition seine berühmten Taten vollbracht hatte. Bis zum vierten und letzten Reisetag war die Straße eine ununterbrochene Prozession von Pilgern. Nun begann sie die Jerusalem vorgelagerten Höhe hinabzusteigen. Als sie sich dem Gipfel näherten, konnten sie die jenseits des Jordans liegenden Berge und im Süden die trägen Wasser des Toten Meeres sehen. Ungefähr auf halbem Wege nach Jerusalem erblickte Jesus zum ersten Mal den Ölberg (den Ort, der ein so wichtiger Teil seines späteren Lebens werden sollte), und Joseph machte ihn darauf aufmerksam, dass die heilige Stadt gerade hinter diesem Bergrücken liege. Das Herz des Jungen schlug schnell in freudiger Erwartung des baldigen Anblicks der Stadt und des Hauses seines himmlischen Vaters. Auf dem östlichen Abhang des Ölberges hielten sie am Rande eines kleinen Dorfes namens Bethanien an, um auszuruhen. Die gastfreundlichen Dorfbewohner kamen heraus, um sich der Pilger anzunehmen, und es traf sich, dass Joseph mit seiner Familie nahe dem Haus eines gewissen Simon halt gemacht hatte, der drei Kinder ungefähr in Jesus Alter besaß – Maria, Martha und Lazarus. Sie luden die Familie aus Nazaret ein hereinzukommen, um sich zu erfrischen, und eine lebenslange Freundschaft entstand zwischen den beiden Familien. Viele Male machte Jesus später in seinem ereignisreichen Leben in diesem Haus halt.
Sie hatten Eile weiterzugehen, standen bald auf der Kuppe des Ölberges, und Jesus sah zum ersten Mal (in seiner Erinnerung) die Heilige Stadt, die anmaßenden Paläste und den inspirierenden Tempel seines Vaters. Zu keiner Zeit seines Lebens erlebte Jesus so eine rein menschliche Erregung wie jene, die ihn ganz und gar ergriff, als er an diesem Aprilnachmittag auf dem Ölberg stand und zum ersten Mal den Anblick Jerusalems in sich aufnahm. Jahre danach stand er an derselben Stelle und weinte über die Stadt, die sich wiederum anschickte, einen Propheten, den letzten und größten ihrer himmlischen Lehrer, zurückzuweisen. Sie eilten nach Jerusalem weiter. Es war jetzt Donnerstagnachmittag. In der Stadt angelangt, kamen sie am Tempel vorbei, und noch nie hatte Jesus so dichtgedrängte Menschenmassen gesehen. Er sann intensiv darüber nach, wie sich diese Juden aus den entlegensten Gebieten der bekannten Welt hier versammelt hatten. Bald erreichten sie den im Voraus bestimmten Ort ihrer Unterkunft während der Passahwoche, das große Haus eines wohlhabenden Verwandten Marias, dem durch Zacharias etwas von der frühen Geschichte von Johannes und Jesus bekannt war. Am folgenden Tag, dem Tag der Vorbereitung, rüsteten sie sich zur angemessenen Begehung des Passahsabbats. Während ganz Jerusalem auf den Beinen war, um das Passafest vorzubereiten, fand Joseph Zeit, seinen Sohn zu einem Besuch der Akademie mitzunehmen, wo er einer für ihn getroffenen Abmachung gemäß zwei Jahre später, sobald er das erforderliche Alter von fünfzehn Jahren erreicht haben würde, seine Ausbildung fortsetzen sollt. Joseph stand wirklich vor einem Rätsel angesichts des geringen Interesses, das Jesus für all diese so sorgfältig ausgearbeiteten Pläne bekundete. Jesus war vom Tempel und all den damit verbundenen Diensten und anderen Tätigkeiten tief beeindruckt. Zum ersten Mal seit seinem vierten Lebensjahr war er mit seinen eigenen Betrachtungen zu sehr beschäftigt, um viele Fragen zu stellen. Trotzdem richtete er an seinen Vater (wie bei früheren Gelegenheiten) einige unbequeme Fragen, wie z. B. diejenige nach dem Grund, weshalb der himmlische Vater die Abschlachtung so vieler unschuldiger und hilfloser Tiere verlange. Und sein Vater konnte an Jesu Gesichtsausdruck gut ablesen, dass seine Antworten und Erklärungsversuche für seinen tiefsinnigen und scharf urteilenden Sohn unbefriedigend ausfielen. Am Abend des Passa-Sabbats rollten Flutwellen geistiger Erleuchtung durch das sterbliche Bewusstsein Jesu und füllten sein menschliches Herz bis zum Überquellen mit liebendem Erbarmen für die geistig blinden und sittlich unwissenden Massen, die da zur alten Passaherinnerungsfeier versammelt waren. Dies war einer der außerordentlichsten Tage, die der Mensch gewordene Sohn Gottes erlebte; und während der Nacht erschien ihm zum ersten Mal auf seinem irdischen Lebensweg ein von Immanuel beauftragter Bote aus Salvington, der sagte: „Die Stunde ist gekommen. Es ist Zeit, dass du beginnst, dich um die Angelegenheiten deines Vaters zu kümmern.“ So kam jetzt, noch bevor die schwere Verantwortung für die Familie von Nazaret auf seine jungen Schultern fiel, ein himmlischer Bote daher, um diesen noch nicht ganz dreizehnjährigen Jungen daran zu erinnern, dass die Stunde gekommen sei, damit zu beginnen, die Verantwortung für ein ganzes Universum wieder aufzunehmen. Dies war der Auftakt zu einer langen Reihe von Ereignissen, die schließlich in der Erfüllung der Selbsthingabe des Sohnes auf Urantia und in der erneuten Übertragung „der Herrschaft über ein Universum auf seine menschlich-göttlichen Schultern“ gipfelten. Je mehr Zeit verstrich, umso unergründlicher erschien uns allen das Geheimnis der Menschwerdung Jesu. Es fiel uns schwer zu verstehen, dass dieser Junge aus Nazaret der Schöpfer von ganz Nebadon war. Wir fassen es heute noch nicht, wie der Geist eben dieses Schöpfersohns und der Geist seines Vaters im Paradies mit den Seelen der Menschen verbunden sind. Wie wir im Laufe der Zeit feststellten, erlangte sein menschlicher Verstand mehr und mehr Klarheit darüber, dass, während er sein Leben im Körper lebte, im Geiste auf seinen Schultern die Verantwortung für ein Universum ruhte. Damit endet der Werdegang des Knaben von Nazaret und beginnt die Geschichte des heranwachsenden Jünglings – des sich seiner selbst immer bewusster werdenden göttlichen Menschen – der sich nun anschickt, über seinen weltlichen Lebensweg nachzusinnen, während er sich gleichzeitig bemüht, seine sich entfaltende Lebensaufgabe mit den Wünschen seiner Eltern und den Verpflichtungen gegenüber seiner Familie und der damaligen Gesellschaft in Einklang zu bringen.
|