JESUS FRÜHES MANNESALTER Schrift 128
Als Jesus von Nazaret in die ersten Jahre seines Erwachsenenlebens eintrat, hatte er ein normales und durchschnittliches menschliches Leben auf Erden hinter sich und fuhr fort, ein solches zu leben. Jesus kam in diese Welt genau so wie andere Kinder auch; er hatte mit der Wahl seiner Eltern nichts zu tun. Allerdings hatte er gerade diese Welt als den Planeten ausgesucht, auf dem er seine siebente und letzte Selbsthingabe, seine Verkörperung im sterblichen Fleisch, durchführen wollte, aber davon abgesehen trat er auf natürliche Weise in die Welt ein, wuchs als eines ihrer Kinder heran und rang mit den Wechselfällen seiner Umgebung genauso wie andere Sterbliche auf dieser und ähnlichen Welten. Man sollte sich stets des doppelten Zwecks der Selbsthingabe Michaels auf Erden erinnern:
Alle übrigen Wohltaten für die Geschöpfe und Vorteile für das Universum waren beiläufig und zweitrangig gegenüber diesen Hauptzwecken der sterblichen Selbsthingabe. DAS EINUNDZWANZIGSTE JAHR (15 n. Chr.) Mit Erreichen des Erwachsenenalters machte sich Jesus allen Ernstes und mit vollem Bewusstsein an die Aufgabe, sich durch weitere Erfahrungen das ganze Wissen um das Leben der niedrigsten Art seiner intelligenten Geschöpfe anzueignen, wodurch er sich das endgültige und volle Recht auf uneingeschränkte Herrschaft über sein selbsterschaffenes Universum verdienen würde. Er trat an dieses gewaltige Unternehmen im vollen Bewusstsein seiner doppelten Natur heran. Aber er hatte diese beiden Naturen schon erfolgreich in einer einzigen – Jesus von Nazaret – vereinigt. Joshua ben Joseph wusste sehr gut, dass er ein Mensch, ein sterblicher, von einer Frau geborener Mensch war. Das zeigt sich in der Wahl seines ersten Titels: der Menschensohn. Er war wirklich ein Wesen aus Fleisch und Blut, und auch heute, da er mit unumschränkter Autorität die Geschicke eines Universums lenkt, trägt er unter seinen zahlreichen wohlverdienten Titeln auch denjenigen des Menschensohns. Es ist buchstäblich wahr, dass das Schöpferwort – der Schöpfersohn – des Universalen Vaters „Fleisch wurde und als ein Mensch dieser Welt auf Urantia lebte“. Er arbeitete, wurde müde, ruhte sich aus und schlief. Er hatte Hunger und stillte solch Bedürfnis mit Nahrung; er hatte Durst und löschte ihn mit Wasser. Er erlebte die ganze Skala menschlicher Gefühle und Gemütsbewegungen; er wurde „in allen Dingen geprüft wie Ihr“, und er litt und starb. Er erlangte Wissen, erwarb Erfahrung und verband beides zu Weisheit, wie das auch andere Sterbliche der Welt tun. Vor seiner Taufe gebrauchte er keine übernatürlichen Kräfte. Er setzte kein Mittel ein, das nicht ein Teil seines menschlichen Erbes als Sohn Josephs und Marias gewesen wäre. Was die Attribute seiner vormenschlichen Existenz anbelangt, so entledigte er sich ihrer. Vor dem Beginn seines öffentlichen Wirkens schöpfte er seine Kenntnis von Menschen und Ereignissen einzig aus sich selbst. Er war wirklich ein Mensch unter Menschen.
Es ist für immer und so wunderbar wahr: „Wir haben einen hohen Herrscher, der von unseren Schwächen angerührt werden kann. Wir haben einen Souverän, der in allem geprüft und versucht worden ist wie wir, außer dass er frei von Sünde war.“ Und da er selber gelitten und Prüfungen und Versuchungen durchgemacht hat, ist er in hohem Maße befähigt, all jene zu verstehen und aufzurichten, die nicht mehr aus noch ein wissen und niedergeschlagen sind. Der Zimmermann von Nazaret war sich nun voll über die vor ihm liegende Aufgabe im Klaren, aber er entschied sich dafür, sein menschliches Leben seinen natürlichen Lauf nehmen zu lassen. Und in vieler Hinsicht ist er seinen sterblichen Geschöpfen wirklich ein Vorbild, wie es auch geschrieben steht: „Lasst in euch denselben Geist herrschen, der auch Jesus Christus erfüllte, der göttlicher Natur war und der sich nicht darüber wunderte, Gott gleich zu sein. Aber er maß sich nur geringe Bedeutung bei, und indem er die Gestalt eines Geschöpfes annahm, wurde er als Mensch unter Menschen geboren. Und also in Menschgestalt erniedrigte er sich und wurde gehorsam bis zum Tode, sogar bis zum Tode am Kreuz.“ Er lebte sein sterbliches Leben genau so, wie alle anderen in der menschlichen Familie das ihre leben, „er, der sich in den Tagen seines Erdenlebens so oft tief bewegt und unter Tränen mit Gebeten und Bitten an Ihn wandte, der aus allem Übel erretten kann; und seine Gebete hatten Wirkung, weil er glaubte“. Deshalb musste er in jeder Hinsicht wie seine Brüder sein, um ihnen ein erbarmender und verstehender höchster Gebieter werden zu können. Er war nie im Zweifel über seine menschliche Natur; diese sprach für sich selbst und war in seinem Bewusstsein stets gegenwärtig. Aber bezüglich seiner göttlichen Natur gab es stets Raum für Zweifel und Mutmaßungen: wenigstens war das bis zum Ereignis seiner Taufe der Fall. Das Gewahrwerden seiner Göttlichkeit war eine langsame und vom menschlichen Standpunkt aus natürliche, evolutionäre Offenbarung. Diese Offenbarung und Bewusstwerdung seiner Göttlichkeit begann in Jerusalem mit der 1. übernatürlichen Begebenheit seiner menschlichen Existenz, als er noch nicht ganz 13 Jahre alt war; und der Prozess der Bewusstwerdung seiner göttlichen Natur vollendete sich bei seiner 2. übernatürlichen Erfahrung als Mensch, bei dem Geschehen, das mit seiner Taufe durch Johannes im Jordan einherging und am Anfang seiner öffentlichen Seelsorge- und Lehrtätigkeit stand. Zwischen diesen zwei himmlischen Besuchen, dem einen in seinem dreizehnten Lebensjahr und dem anderen bei seiner Taufe, geschah nichts Übernatürliches oder Übermenschliches im Leben dieses inkarnierten Schöpfersohnes. Dessen ungeachtet waren das Kindlein von Betlehem, der Knabe, Jüngling und Mann von Nazaret in Wahrheit der inkarnierte Schöpfer eines Universums; aber nicht ein einziges Mal in seinem menschlichen Leben, bis zu dem Tag, an dem Johannes ihn taufte, bediente er sich auch nur im geringsten dieser Macht, noch nahm er die Führung himmlischer Persönlichkeiten in Anspruch, abgesehen von seinem Schutzengel. Und wir, die uns solches bezeugen, wissen, wovon wir sprechen. Und doch war er während all dieser irdischen Jahre wahrhaftig göttlich. Er war tatsächlich ein Schöpfersohn des Paradies Vaters. Nachdem seine rein menschliche Erfahrung, die zur Erlangung der Souveränität erforderlich war, ihre technische Vollendung erreicht und er seine öffentliche Laufbahn begonnen hatte, zögerte er nicht, öffentlich zu erklären, dass er der Sohn Gottes sei. Er zögerte nicht zu erklären: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte.“ Er erhob in späteren Jahren keinen Einspruch, wenn man ihn Herr der Herrlichkeit nannte, oder Gebieter über ein Universum, Gott, der Herr der ganzen Schöpfung, der Heilige Israels, der Herr über alles, unser Herr und unser Gott, Gott mit uns, der einen Namen hat, höher als alle Namen und über allen Welten, die Allmacht eines Universums, der Universums-Intellekt dieser Schöpfung, der Eine, in dem alle Schätze der Weisheit und des Wissens verborgen sind, die Fülle Dessen, der alle Dinge erfüllt, das ewige Wort des ewigen Gottes, der Eine, der vor allen Dingen war und in dem alle Dinge bestehen, der Schöpfer von Himmel und Erde, die Stütze eines Universums, der Richter über die ganze Erde, der Spender des ewigen Lebens, der Wahre Hirte, der Befreier der Welten und der Führer zu unserer Erlösung. Er wehrte sich nie gegen irgendeine dieser Benennungen, wie sie nach dem Abschluss seiner rein menschlichen Existenz in späteren Jahren für ihn verwendet wurden, als er das volle Bewusstsein seiner göttlichen Aufgabe in der Menschheit, für die Menschheit und gegenüber der Menschheit auf dieser und allen anderen Welten erlangt hatte. Nur einen Titel, den man ihm gab, wies Jesus zurück: Als er einmal mit Immanuel angeredet wurde, antwortete er bloß: „Das bin nicht ich, das ist mein älterer Bruder.“
Sogar nach diesem Eintritt in das erweiterte Leben auf Erden ordnete sich Jesus immer gehorsam dem Willen seines Vaters im Himmel unter. Nach seiner Taufe ließ er es geschehen, dass die, die aufrichtig an ihn glaubten und ihm dankbar folgten, ihn anbeteten. Als er noch gegen die Armut kämpfte und durch seiner Hände Arbeit seiner Familie das Lebensnotwendige verschaffte, wuchs in ihm das Bewusstsein, ein Sohn Gottes zu sein; er wusste, dass er der Schöpfer der Himmel und eben dieser Erde war, auf der er jetzt seine menschliche Existenz durchlebte. Und ebenso wussten die Heerscharen himmlischer Wesen von einem Ende des großen und ihm zuschauenden Universums zum anderen, dass dieser Mann von Nazaret ihr geliebter Herr und Schöpfer-Vater war. Während all dieser Jahre herrschte eine starke Spannung im Universum von Nebadon; alle himmlischen Blicke waren fortwährend auf Urantia, auf Palästina gerichtet. In diesem Jahr ging Jesus mit Joseph nach Jerusalem zur Passahfeier. Nachdem er Jakobus zur Tempelweihe gebracht hatte, hielt er es für seine Pflicht, nun auch Joseph mitzunehmen. Jesus zeigte gegenüber seiner Familie nie die geringste Parteilichkeit. Er nahm mit Joseph den üblichen Weg durch das Jordantal nach Jerusalem, aber er kehrte über den durch Amathus führenden Weg östlich des Jordans nach Nazaret zurück. Als sie den Jordan hinuntergingen, erzählte Jesus Joseph aus der jüdischen Geschichte, und auf dem Rückweg berichtete er ihm von den Erlebnissen der berühmten Stämme Ruben, Gad und Gilead, die nach der Überlieferung diese östlich des Flusses gelegenen Gebiete bewohnt hatten. Joseph stellte Jesus viele auf seine Lebenssendung zielende Fragen, aber auf die meisten dieser Erkundigungen antwortete Jesus nur: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Trotzdem fiel während dieser vertraulichen Unterhaltung manches Wort, woran Joseph sich während der aufwühlenden Ereignisse der späteren Jahre erinnerte. Jesus verbrachte die Passahzeit mit Joseph bei seinen drei Freunden in Bethanien, wie es seine Gewohnheit war, wenn er in Jerusalem den Gedächtnisfeierlichkeiten beiwohnte.
DAS ZWEIUNDZWANZIGSTE JAHR (16. n. Chr.) Dies war eines von mehreren Jahren, in denen die Prüfungen und Bedrängnisse, die die Adoleszenz mit sich bringt, den Geschwistern Jesu zu schaffen machten. Jesus hatte jetzt Brüder und Schwestern zwischen 7 und 18 Jahren, und er war dauernd damit beschäftigt, ihnen bei den Anpassungen angesichts des Erwachens ihres Verstandes- und Gefühlslebens zu helfen. Er hatte sich jedes Mal mit den Problemen der Adoleszenz auseinander zusetzen, wenn sie im Leben seiner jüngeren Geschwister auftraten. In diesem Jahr schloss Simon die Schule ab und begann, mit dem alten Spielgefährten Jesu aus der Knabenzeit und seinem immer breiten Verteidiger, Jakob, dem Steinmetzen, zu arbeiten. Nach mehreren Familienberatungen wurde entschieden, dass es unklug wäre, wenn alle Söhne das Zimmerhandwerk erlernten. Man dachte, dass sie durch verschiedenartige Berufe in die Lage versetzt würden, Aufträge zur Errichtung ganzer Gebäude anzunehmen. Außerdem waren sie nicht immer alle beschäftigt gewesen, seit drei von ihnen ganztags als Zimmerleute arbeiteten. Jesus fuhr auch in diesem Jahr mit Fertigstellungsarbeiten an Häusern und mit Möbeltischlerei fort, aber die meiste Zeit verbrachte er in der Karawanen-Reparaturwerkstatt. Jakobus begann, mit ihm im Wechsel den Laden zu bedienen. Später in diesem Jahr, als es in Nazaret wenig Zimmermannsarbeiten gab, übertrug Jesus Jakobus die Reparaturwerkstatt und Joseph die Werkbank zu Hause, und er selbst ging nach Sepphoris hinüber, um bei einem Schmied zu arbeiten. Er arbeitete sechs Monate lang mit Metallen und erlangte beträchtliche Fertigkeit am Amboss. Bevor Jesus seine neue Beschäftigung in Sepphoris aufnahm, hielt er eine seiner regelmäßigen Beratungen in der Familie ab und setzte dabei Jakobus, der gerade 18 Jahre alt geworden war, feierlich als stellvertretendes Familienoberhaupt ein. Er versprach seinem Bruder kräftige Unterstützung und volle Zusammenarbeit und verlangte von jedem Familienmitglied ein klares Versprechen, Jakobus zu gehorchen. Von diesem Tag an übernahm Jakobus die gesamte finanzielle Verantwortung für die Familie, und Jesus leistete wöchentliche Zahlungen an seinen Bruder. Nie wieder nahm Jesus Jakobus die Zügel aus der Hand. Während er in Sepphoris arbeitete, hätte er, wenn nötig, jeden Abend nach Hause gehen können, aber er blieb absichtlich fern, wobei er das Wetter und andere Gründe vorschützte. Sein wahrer Beweggrund aber war, Jakobus und Joseph Gelegenheit zu geben, sich im Tragen der Familienverantwortung zu üben. Er hatte mit dem langsamen Ablösungsprozess von seiner Familie begonnen. An jedem Sabbat und manchmal auch während der Woche, wenn die Ereignisse es erforderten, kehrte er nach Nazaret zurück, um zu sehen, wie sich der neue Plan anließ, und um mit Rat und hilfreichen Anregungen zur Stelle zu sein. Die sechs zumeist in Sepphoris verbrachten Monate gaben Jesus eine neue Gelegenheit, mit Heiden und lebte unter Heiden und ließ sich nicht die kleinste Gelegenheit entgehen, ihre Lebensgewohnheiten und ihre Denkweise aus nächster Nähe und gründlich kennen zu lernen. Das sittliche Niveau dieser Residenzstadt des Herodes Antipas war sogar noch niedriger als das des Karawanenviertels von Nazaret. Deshalb war Jesus nach sechsmonatigem Aufenthalt in Sepphoris nicht abgeneigt, unter einem Vorwand nach Nazaret zurückzukehren. Das Unternehmen, für das er arbeitete, sollte in Sepphoris und in der neuen Stadt Tiberias öffentliche Arbeiten ausführen, und Jesus wollte mit keinerlei Beschäftigung unter der Oberaufsicht des Herodes Antipas das Geringste zu tun haben. Und es gab auch noch andere Gründe, die es Jesus weise erscheinen ließen, nach Nazaret zurückzugehen. Als er in die Reparaturwerkstatt zurückkehrte, übernahm er die persönliche Leitung der Familienangelegenheiten nicht wieder. Er arbeitete zusammen mit Jakobus in der Werkstatt und erlaubte ihm soweit wie möglich, die häusliche Leitung fortzuführen. Auch Jakobus’ Kontrolle der Familienausgaben und seine Verwaltung des Haushaltsbudgets blieben unangetastet. Durch solch weises und überlegtes Planen bereitete Jesus den Weg für seinen schließlichen Rückzug von aller aktiven Teilnahme an den Angelegenheiten seiner Familie. Nachdem Jakobus 2 Jahre lang als Familienoberhaupt Erfahrungen gesammelt hatte – bis zu seiner Heirat sollte es noch volle 2 Jahre dauern – wurde Joseph mit der Verwaltung der Haushaltsmittel und der allgemeinen Leitung des Heims betraut.
3. DAS DREIUNDZWANZIGSTE JAHR (17 n. Chr.) In diesem Jahr ließ der finanzielle Druck leicht nach, da jetzt vier von ihnen arbeiteten. Miriam verdiente beträchtlich mit dem Verkauf von Milch und Butter; und Martha war eine Meisterin im Weben geworden. Der Kaufpreis für die Reparaturwerkstatt war zu über einem Drittel bezahlt. Die Lage erlaubte es Jesus, seine Arbeit drei Wochen lang zu unterbrechen, um mit Simon nach Jerusalem zum Passahfest zu gehen. Das war die längste Zeitspanne, die er seit dem Tode seines Vaters fern von der täglichen Mühsal genossen hatte. Sie reisten durch die Dekapolis und über Pella, Gerasa, Philadelphia, Heschbon und Jericho nach Jerusalem. Sie kehrten auf dem Küstenweg nach Nazaret zurück und berührten dabei Lydda, Joppe und Cäsarea. Dann gingen sie um den Karmelberg herum nach Ptolemäus und Nazaret. Diese Reise machte Jesus recht gut mit ganz Palästina nördlich der Gegend von Jerusalem bekannt. In Philadelphia machten Jesus und Simon die Bekanntschaft eines Kaufmanns von Damaskus, der das Paar aus Nazaret so lieb gewann, dass er sie drängte, mit ihm an seinem Jerusalemer Geschäftssitz abzusteigen. Während Simon den Tempel besuchte, verbrachte Jesus viel Zeit mit diesem hochgebildeten und vielgereisten Mann mit weltweiten Geschäftsverbindungen. Dieser Kaufmann besaß über viertausend Karawanenkamele; er hatte im ganzen römischen Reich Geschäftsinteressen und befand sich jetzt auf dem Weg nach Rom. Er schlug Jesus vor, nach Damaskus zu kommen und dort in sein orientalisches Importunternehmen einzutreten. Doch Jesus erklärte, er fühle, dass er nicht das Recht habe, sich gerade jetzt so weit von seiner Familie weg zu begeben. Auf dem Wege nach Hause dachte er aber viel über diese fernen Städte und die noch weiter abgelegenen Länder des Fernen Westens und Fernen Ostens nach, von denen er die Karawanenreisenden und –führer so oft hatte erzählen hören. Simon genoss seinen Besuch in Jerusalem sehr. Er wurde bei der Passahweihe der neuen Söhne des Gesetzes gebührend in die Gemeinschaft Israels aufgenommen. Während Simon den Passahzeremonien beiwohnte, mischte sich Jesus unter die Besucherscharen und nahm an vielen interessanten, persönlichen Unterhaltungen mit zahlreichen heidnischen Proselyten teil. Vielleicht der bemerkenswerteste all dieser Kontakte war der mit einem jungen Hellenisten namens Stephans. Dieser junge Mann befand sich zum 1. Mal zu Besuch in Jerusalem und begegnete Jesus durch Zufall am Donnerstagnachmittag der Passahwoche. Während beide umherschlenderten und sich den Palast der Hasmonäer anschauten, begann Jesus eine beiläufige Unterhaltung, bei der sie sich füreinander zu interessieren begannen und die schließlich in eine vierstündige Diskussion über die Lebensweise und den wahren Gott und seine Anbetung mündete. Jesu Worte beeindruckten Stephans zutiefst; er vergaß sie niemals. Dieser nämliche Stephans war es, der später an die Lehren Jesu zu glauben begann, und dessen Unerschrockenheit beim Predigen des frühen Evangeliums bewirte, dass er durch erzürnte Juden zu Tode gesteinigt wurde. Ein Teil der außerordentlichen Kühnheit, mit der er seine Sicht des neuen Evangeliums verkündete, war die direkte Folge dieser früheren Unterhaltung mit Jesus. Aber Stephans ahnte nie auch nur im Entferntesten, dass der Galiläer, mit dem er 15 Jahre zuvor gesprochen hatte, mit demjenigen, den er später zum Retter der Welt erklärte, identisch war, und für den er so bald sterben und dadurch zum ersten Märtyrer des neu entstehenden christlichen Glaubens werden sollte. Als Stephans sein Leben hingab als Preis für seinen Angriff auf den jüdischen Tempel und dessen althergebrachte Bräuche, war da ein Bürger von Tarsus mit Namen Saulus zugegen. Und als Saulus sah, wie dieser Grieche für seinen Glauben zu sterben bereit war, bemächtigten sich seines Herzens jene Gefühle, die ihn schließlich dazu führten, sich für die Sache, für die Stephan sein Leben hingegeben hatte, einzusetzen; später wurde aus ihm der draufgängerische und unbezwingbare Paulus, der Philosoph, wenn nicht gar alleinige Begründer der christlichen Religion.
Am Sonntag nach der Passahwoche begaben sich Simon und Jesus auf die Rückreise nach Nazaret: Niemals vergaß Simon, was Jesus ihn unterwegs lehrte. Er hatte Jesus immer geliebt, aber nun fühlte er, dass er begonnen hatte, seinen Vater-Bruder kennen zu lernen. Während sie über Land gingen und ihre Mahlzeiten am Wegrand zubereiteten, hatten sie viele offenherzige Gespräche miteinander. Sie kamen am Donnerstag um die Mittagsstunde zu Hause an, und Simon hielt die Familie mit dem Erzählen seiner Erlebnisse bis spät in die Nacht hin wache. Maria war sehr bestürzt, als Simon ihr erzählte, dass Jesus die meiste Zeit in Jerusalem „in Gesellschaft von Ausländern, insbesondere von solchen aus fernen Ländern“ verbracht habe. Jesu Familie konnte nie verstehen, wieso er sich so sehr für die Menschen interessierte, wieso es ihn so sehr drängte, mit ihnen zu plaudern, ihre Lebensweise kennen zu lernen und herauszufinden, wie sie dachten. Die Familie von Nazaret wurde immer mehr durch ihre unmittelbaren menschlichen Probleme in Anspruch genommen; die künftige Sendung Jesu wurde nicht oft erwähnt, und er selber sprach nur sehr selten von seiner kommenden Lebensaufgabe. Seine Mutter dachte fast nie daran, dass er ein Kind der Verheißung war. Langsam gab sie die Idee auf, dass Jesus irgendeine göttliche Sendung auf Erden zu erfüllen habe; jedoch lebte ihr Glaube von Zeit zu Zeit wieder auf, wenn sie innehielt und sich Gabriels Besuch vor der Geburt des Kindes in Erinnerung rief.
4. DIE EPISODE IN DAMASKUS Jesus verbrachte die vier letzten Monate dieses Jahres in Damaskus als Gast des Kaufmanns, dem er zum 1. Mal in Philadelphia auf dem Weg nach Jerusalem begegnet war. Ein Beauftragter dieses Kaufmanns hatte Jesus auf der Durchreise durch Nazaret aufgespürt und ihn nach Damaskus begleitet. Dieser Kaufmann mit teilweise jüdischer Abstammung schlug vor, eine außergewöhnliche Summe Geldes für die Gründung einer Schule für religiöse Philosophie in Damaskus aufzuwenden. Er plante die Schaffung eines Studienzentrums, das Alexandria den Rang ablaufen würde. Und er schlug Jesus vor, sich unverzüglich auf eine lange Reise zu den Weltzentren der Bildung zu begeben, bevor er Leiter dieses neuen Projektes würde. Dies war eine der größten Versuchungen, denen Jesus im Laufe seines rein menschlichen Lebens ausgesetzt war. Bald stellte dieser Kaufmann Jesus eine Gruppe von zwölf Kaufleuten und Bankiers vor, die sich mit der Unterstützung der neu geplanten Schule einverstanden erklärten. Jesus bekundete tiefes Interesse an dieser Schule und half ihnen bei der Planung ihrer Organisation, gab aber immer seiner Befürchtung Ausdruck, dass seine anderen unerwähnten, aber früheren Verpflichtungen ihn an der Annahme der Leitung einer so anspruchsvollen Unternehmung hindern würden. Sein Möchtegern-Gönner war beharrlich und, während er Jesus in seinem Hause in nützlicher Weise mit Übersetzungsarbeiten beschäftigte, bemühte er sich mit seiner Frau, seinen Söhnen und Töchtern, ihn zur Annahme der ihm angebotenen Ehre zu bewegen. Aber Jesus willigte nicht ein. Er wusste gut, dass seine Sendung auf Erden nicht durch Bildungsinstitute unterstützt werden durfte; er wusste, dass er keine Verpflichtungen eingehen durfte, die ihn auch nur im geringsten von den „Ratsversammlungen der Menschen“ abhängig machen würden, ganz gleich, wie wohlgemeint sie sein mochten.
Er, den die religiösen Führer Jerusalems sogar noch ablehnten, nachdem er seine Führungsqualitäten unter Beweis gestellt hatte, wurde von den Geschäftsleuten und Bankiers von Damaskus schon als ein hervorragender Lehrmeister anerkannt und begrüßt, als er in Nazaret noch ein unauffälliges und unbekanntes Dasein als Zimmermann führte.
Er sagte seiner Familie nie etwas von diesem Angebot, und Ende dieses Jahres ging er in Nazaret wiederum seinen täglichen Pflichten nach, gerade, als wäre er nie durch die schmeichelhaften Vorschläge seiner damaszenischen Freunde versucht worden. Ebenso wenig brachten die Männer von Damaskus je den späteren Bürger von Kafarnaum, der das ganze Judentum vollkommen durcheinander brachte, mit dem einstigen Zimmermann aus Nazaret in Verbindung, der es gewagt hatte, die Ehre zurückzuweisen, die ihr vereinigter Reichtum ihm hätte einbringen können. Jesus gelang es auf äußerst intelligente Weise und mit Absicht, die verschiedenen Abschnitte seines Lebens voneinander zu trennen, so dass sie in den Augen der Welt nie als das Tun einer einzigen Person miteinander in Verbindung gebracht wurden. Oft hörte er sich in späteren Jahren die Erzählung dieser nämlichen Geschichte von dem seltsamen Galiläer an, der das Angebot, in Damaskus eine mit Alexandria rivalisierende Schule zu gründen, ausgeschlagen hatte.
Wenn Jesus sich bemühte, gewisse Aspekte seiner irdischen Erfahrung voneinander zu sondern, so verfolgte er damit ein bestimmtes Ziel. Er wollte vermeiden, dass sein Lebensweg zu vielgestaltig und Aufsehen erregend erschiene und künftige Generationen dazu bewegen könnte, den Lehrer zu verehren, anstatt der Wahrheit zu gehorchen, die er gelebt und gelehrt hatte. Jesus wollte nicht Anlass zum Entstehen solch eines menschlichen Leistungskataloges geben, der die Aufmerksamkeit von seinen Lehren ablenken würde. Er erkannte schon sehr früh, dass seine Anhänger versucht sein würden, eine Religion über ihn zu begründen, die mit dem Evangelium des Königreichs, das er der Welt zu verkündigen beabsichtigte, in Konkurrenz treten könnte. Deshalb trachtete er ständig danach, auf seinem bewegten Lebensweg alles zu verhindern, was ihm dieser natürlichen menschlichen Neigung entgegenzukommen schien, den Lehrer zu vergöttern, anstatt seine Lehren zu verkünden.
Derselbe Beweggrund erklärt auch, weshalb er es zuließ, dass man ihn während der vielfältigen Abschnitte seines abwechslungsreichen Erdenlebens unter verschiedenen Benennungen kannte. Außerdem wollte er seine Familie oder andere nicht irgendeinem unangebrachten Einfluss aussetzen, der sie dazu bringen würde, entgegen ihren ehrlichen Überzeugungen an ihn zu glauben. Er lehnte es immer ab, in ungebührlicher oder unbilliger Weise seinen Vorteil aus dem menschlichen Denken zu ziehen. Er wollte nicht, dass die Menschen an ihn glaubten, wenn sie in ihrem Herzen für die in seinen Lehren offenbarten geistigen Realitäten nicht empfänglich waren.
Am Ende dieses Jahres verlief in der Familie in Nazaret alles recht glatt. Die Kinder wuchsen heran und Maria gewöhnte sich daran, dass Jesus von zu Hause abwesend war. Er fuhr fort, Jakobus seinen Verdienst für den Unterhalt der Familie zu überweisen und behielt für seine unmittelbaren persönlichen Ausgaben nur einen kleinen Teil zurück.
Im Laufe der Jahre wurde es immer schwieriger sich vorzustellen, dass dieser Mann ein Gottessohn auf Erden war. Er schien wie irgendein Individuum der Welt zu werden, ganz einfach Mensch unter Menschen. Denn es war vom Vater im Himmel bestimmt worden, dass die Selbsthingabe gerade in dieser Weise zu geschehen habe.
5. DAS VIERUNDZWANZIGSTE JAHR (18 n. Chr.)
Dies war das erste Jahr, da Jesus vergleichsweise frei von Familienverantwortung war, Jakobus, von Jesus mit Rat und Geld unterstützt, war in der Führung der häuslichen Angelegenheiten sehr erfolgreich.
In der auf das Passahfest dieses Jahres folgenden Woche kam ein junger Mann aus Alexandria nach Nazaret, um zwischen Jesus und einer Gruppe alexandrinischer Juden ein Treffen vorzubereiten, das später im Jahr irgendwo an der Küste Palästinas stattfinden sollte. Diese Begegnung wurde für Mitte Juni vereinbart, und Jesus ging nach Cäsarea hinüber, um mit fünf angesehenen Juden aus Alexandria zusammenzutreffen, die ihn dringend baten, sich in ihrer Stadt als religiöser Lehrer niederzulassen, und die ihm für den Anfang als Anreiz die Stelle eines Assistenten des Chazans in ihrer Hauptsynagoge anboten.
Der Sprecher dieser Abordnung erklärte Jesus, dass Alexandria bestimmt sei, Weltmittelpunkt der jüdischen Kultur zu werden, und dass die hellenistische Strömung im Judentum die babylonische Geistesrichtung praktisch überholt habe. Sie erinnerten Jesus an das bedrohliche Grollen eines Volksaufstandes in Jerusalem und ganz Palästina und versicherten ihm, dass jede Revolte der palästinensischen Juden einem nationalen Selbstmord gleichkäme, dass die eiserne Hand Roms den Aufstand innerhalb dreier Monate niederschlagen, Jerusalem zerstören und den Tempel derart vernichten würde, dass kein Stein auf dem anderen bliebe.
Jesus hörte allem zu, was sie zu sagen hatten, dankte ihnen für ihr Vertrauen und sagte zur Begründung seiner Weigerung, nach Alexandria zu gehen, im Wesentlichen: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Seine offensichtliche Indifferenz gegenüber der Ehre, die sie ihm hatten erweisen wollen, machte sie sprachlos. Bevor sie von Jesus Abschied nahmen, überreichten sie ihm einen Geldbeutel als Zeichen der Hochachtung seiner alexandrinischen Freunde und als Entschädigung für Zeit und Geld, die er für die Reise nach Cäsarea aufgewendet hatte, um sich mit ihnen zu besprechen. Aber er wies auch das Geld mit den Worten zurück: „Das Haus Josephs hat nie Almosen entgegengenommen, und wir können nicht anderer Leute Brot essen, solange ich starke Arme habe und meine Brüder arbeiten können.“
Seine ägyptischen Freunde segelten wieder nach Hause, und wenn ihnen in späteren Jahren Gerüchte zu Ohren kamen von dem Bootsbauer aus Kafarnaum, der in Palästina eine solche Aufregung verursachte, ahnten nur wenige von ihnen, dass dieser Mann das herangewachsene Kind von Betlehem und der nämliche, so seltsam handelnde Galiläer war, der die Aufforderung, ein großer Lehrer in Alexandria zu werden, ohne Umschweife zurückgewiesen hatte. Jesus kehrte nach Nazaret zurück. Bis zum Jahresende folgten die 6 Ereignisärmsten Monate seines ganzen Daseins. Er genoss diese vorübergehende Atempause im üblichen Programm von zu lösenden Aufgaben und zu überwindenden Schwierigkeiten. Er war viel mit seinem himmlischen Vater in Verbindung und machte gewaltige Fortschritte in der Beherrschung seines menschlichen Verstandes.
Aber die menschlichen Angelegenheiten auf den Welten von Zeit und Raum pflegen nicht lange glatt zu verlaufen. Im Dezember hatte Jakobus eine private Unterredung mit Jesus, bei der er ihm eröffnete, dass er sehr in Esta, eine junge Frau aus Nazaret, verliebt sei und dass sie heiraten möchten, sofern sich das machen ließe. Er hob die Tatsache hervor, dass Joseph bald achtzehn Jahre alt und es für ihn eine gute Erfahrung wäre, wenn er die Gelegenheit bekäme, das Amt eines stellvertretenden Familienvorstandes auszuüben. Jesus erklärte sich mit Jakobus’ Heirat in zwei Jahren unter der Voraussetzung einverstanden, dass er in der Zwischenzeit Joseph gut auf die Übernahme des Familienhaushalts vorbereite.
Und nun kamen die Ereignisse in Gang – das Heiraten lag in der Luft. Der Erfolg des Jakobus, der von Jesus die Zustimmung zu seiner Heirat erhalten hatte, ermutigte auch Miriam, mit ihren Plänen an ihren Bruder-Vater heranzutreten. Jakob, der jüngere Steinmetz, einstmals selbsternannter Verteidiger Jesu und jetzt Geschäftspartner von Jakobus und Joseph, hatte schon seit langem daran gedacht, um Miriams Hand anzuhalten. Nachdem Miriam Jesus ihre Pläne dargelegt hatte, bestimmte er, dass Jakob zu ihm kommen möge, um einen förmlichen Antrag zu stellen, und versprach, seinen Segen zur Heirat in dem Augenblick zu geben, da sie fühle, dass Martha bereit sei, ihre Pflichten als älteste Tochter wahrzunehmen.
War er zu Hause, lehrte er weiterhin dreimal wöchentlich in der Abendschule, las am Sabbat oft in der Synagoge aus den Schriften, machte zusammen mit seiner Mutter Besuche, unterrichtete die Kinder und führte in allem das Leben eines würdigen und geachteten Bürgers von Nazaret in der Gemeinschaft Israels.
6. DAS FÜNFUNDZWANZIGSTE JAHR (19 n. Chr.)
Zu Beginn dieses Jahres war die ganze Familie von Nazaret bei bester Gesundheit und sah die regelmäßige Schulzeit aller Kinder zu Ende gehen mit Ausnahme gewisser Arbeiten, die Martha für Ruth tun musste.
Jesus war eines der kräftigsten und verfeinertsten menschlichen Wesen, die seit den Tagen Adams auf Erden erschienen waren. Seine physische Entwicklung war prächtig. Sein Verstand war aktiv, scharf und durchdringend – im Vergleich mit den durchschnittlichen Verstandesfähigkeiten seiner Zeitgenossen hatte er riesige Ausmaße angenommen – und sein Geist war wahrhaftig auf menschliche Weise göttlich.
Seit dem Dahinschwinden von Josephs Vermögen war es um die Finanzen der Familie noch nie so gut bestellt gewesen. Die letzten Zahlungen für die Karawanen-Reparaturwerkstatt waren erfolgt; sie schuldeten niemandem mehr etwas, und zum ersten Mal seit Jahren hatten sie einige Barmittel zur Verfügung. Unter diesen Umständen entschloss sich Jesus, Jude, der gerade sein Schlussexamen an der Synagogenschule abgelegt hatte, bei seinem ersten Tempelbesuch zu begleiten, zumal er auch seine anderen Brüder für ihre ersten Passahzeremonien nach Jerusalem mitgenommen hatte. Sie zogen durch das Jordantal nach Jerusalem hinauf und kehrten auf demselben Weg zurück, da Jesus Unannehmlichkeiten befürchtete, wenn er seinen jungen Bruder durch Samarien führen würde. Schon in Nazaret war Jude wegen seines heftigen Temperaments und seiner glühenden patriotischen Gefühle mehrmals in kleinere Schwierigkeiten geraten.
Sie langten rechtzeitig in Jerusalem an und befanden sich eben auf dem Weg zu ihrem ersten Besuch des Tempels, dessen bloßer Anblick Jude bis in die Tiefe seiner Seele aufwühlte und erregte, als sie zufällig auf Lazarus von Bethanien stießen. Während Jesus mit Lazarus sprach und ihre gemeinsame Passahfeier planen wollte, löste Jude einen für sie alle bedenklichen Zwischenfall aus. Nahe bei ihnen stand ein römischer Wachsoldat, der ungehörige Bemerkungen machte, als ein jüdisches Mädchen vorüberging. Jude wurde rot vor hitziger Empörung und zögerte nicht, gegenüber dem Soldaten und in dessen Hörweite seinem Unmut über eine solche Ungehörigkeit Luft zu machen. Nun muss man wissen, dass die römischen Legionäre auf alles, was von Seiten der Juden an Respektlosigkeit grenzte, sehr empfindlich reagierten; deshalb verhaftete der Wachsoldat Jude auf der Stelle. Das war zu viel für den jungen Patrioten und, noch ehe Jesus ihn durch einen mahnenden Blick hätte warnen können, hatte er sich sehr wortreich seiner aufgestauten antirömischen Gefühle entledigt, was alles nur noch verschlimmerte. Jude, mit Jesus an seiner Seite, wurde augenblicklich ins Militärgefängnis abgeführt.
Jesus bemühte sich darum, für Jude entweder ein unverzügliches Verhör oder aber seine Entlassung noch vor der Passahfeier dieses Abends zu erwirken, aber beide Versuche schlugen fehl. Da der nächste Tag in Jerusalem eine „heilige Zusammenrufung“ war, wagten selbst die Römer nicht, sich Klagen gegen einen Juden anzuhören. Folglich blieb Jude bis zum Morgen des 2. Tages nach seiner Verhaftung in Gewahrsam, und Jesus blieb bei ihm im Gefängnis. Sie waren bei der Tempelfeier nicht anwesend, als die Söhne des Gesetzes in das volle Bürgerrecht Israels aufgenommen wurden. Jude nahm erst Jahre später an dieser förmlichen Zeremonie teil, als er das nächste Mal zur Passahfeier in Jerusalem weilte in Verbindung mit seiner Propagandaarbeit zugunsten der Zeloten, der patriotischen Organisation, der er angehörte und in der er sehr aktiv war. Am Morgen, der ihrem 2. Tag im Gefängnis folgte, erschien Jesus für Jude vor dem Militärrichter. Jesus entschuldigte sich für seines Bruders Jugend, und mit weiteren erklärenden, aber wohlüberlegten Worten, die auch auf die herausfordernde Art der Szene Bezug nahmen, die zur Verhaftung seines Bruders geführt hatte, handhabte Jesus die Angelegenheit so, dass der Richter der Meinung Ausdruck gab, der junge jüdische Mann möge einen entschuldbaren Grund zu seinem heftigen Ausbruch gehabt haben. Nachdem er Jude davor gewarnt hatte, sich nicht wieder einer solchen Unbesonnenheit schuldig zu machen, sagte er zu Jesus, indem er beide entließ: „Du tätest gut daran, auf den Burschen ein Auge zu haben; er ist leicht imstande, euch allen viele Unannehmlichkeiten zu bereiten.“ Und der römische Richter sprach die Wahrheit. Jude bereitete Jesus beträchtliche Schwierigkeiten, und immer waren sie von derselben Art: Konflikte mit der zivilen Obrigkeit wegen seiner gedankenlosen und unklugen patriotischen Ausbrüche. Jesus und Jude gingen für die Nacht nach Bethanien hinüber und erklärten, weshalb sie ihre Abmachung für das Passahabendessen nicht hatten einhalten können. Am nächsten Tag machten sie sich nach Nazaret auf. Jesus sagte seiner Familie nichts von der Verhaftung seines Bruders in Jerusalem, aber drei Wochen nach ihrer Rückkehr hatte er mit Jude ein langes Gespräch über den Zwischenfall. Nach diesem Gespräch berichtete Jude seiner Familie von sich aus darüber. Nie vergaß er die Geduld und Nachsicht seines Bruder-Vaters während dieses ganzen kritischen Erlebnisses.
Das war das letzte Passahfest, dem Jesus mit einem Mitglied seiner eigenen Familie beiwohnte. Immer mehr lockerte der Menschensohn die engen Bande zu seinem eigenen Fleisch und Blut. In diesem Jahr wurden seine tiefen Meditationen oft durch Ruth und ihre Spielgefährten unterbrochen. Und jedes Mal war Jesus bereit, die Betrachtung seines künftigen Werks für die Welt und das Universum auf später zu verschieben, um in die kindliche Freude und jugendliche Fröhlichkeit dieser Kleinen einzustimmen, die nie müde wurden. Jesus erzählen zu hören, was er auf seinen verschiedenen Reisen nach Jerusalem alles erlebt hatte. Sie hatten auch große Freude an seinen Geschichten über Tiere und die Natur.
Die Kinder waren in der Reparaturwerkstatt immer willkommen. Jesus stellte neben der Werkstatt Sand, Holzklötze und Seine bereit, und die Kleinen kamen scharenweise herbei, um sich zu vergnügen. Wenn sie des Spielens müde waren, spähten die Unerschrockeneren in die Werkstatt, und wenn der Meister gerade nicht beschäftigt war, erkühnten sie sich hineinzugehen und zu sagen: „Onkel Josua, komm heraus und erzähle uns eine große Geschichte.“ Dann führten sie ihn hinaus, indem sie ihn so lange an den Händen zerrten, bis er auf seinem bevorzugten Stein an der Ecke der Werkstatt saß, mit den Kindern am Boden im Halbkreis vor sich. Und wie sich das kleine Volk an Onkel Josua ergötzte! Sie lernten lachen, und von Herzen lachen. Zwei oder drei der kleinsten Kinder pflegten auf seine Gesichtszüge aufzuschauen, während er seine Geschichte erzählte. Die Kinder liebten Jesus, und Jesus liebte die Kinder.
Es fiel seinen Freunden schwer, die Spannweite seiner intellektuellen Tätigkeiten zu erfassen, zu begreifen, wie er so unvermittelt und vollständig von tiefen Diskussionen über Politik, Philosophie oder Religion zu der unbeschwerten und fröhlichen Ausgelassenheit dieser 5 bis 10jährigen Knirpse übergehen konnte. Als seine eigenen Geschwister größer wurden und er mehr Mußestunden gewann, und noch bevor Enkelkinder ankamen, bekundete er für diese Kleinen ein sehr reges Interesse. Aber er lebte nicht lange genug auf Erden, um sich der Enkelkinder so recht erfreuen zu können.
7. DAS SECHSUNDZWANZIGSTE JAHR (20 n. Chr.)
Zu Beginn dieses Jahres wurde sich Jesus von Nazaret zutiefst bewusst, dass er sehr weitreichende potentielle Macht besaß. Aber er war ebenso fest überzeugt, dass seine Persönlichkeit als Menschensohn sich dieser Macht nicht bedienen dürfe, zumindest nicht, bevor seine Stunde käme.
Zu dieser Zeit dachte er viel über seine Beziehung zu seinem Vater im Himmel nach, sprach aber kaum darüber. Das Ergebnis dieser ganzen Gedankenarbeit drückte er einmal oben auf der Anhöhe in einem Gebet aus, als er sagte: „Ganz gleich, wer ich bin und welche Macht auch immer ich ausüben mag oder nicht, habe ich stets dem Willen meines Vaters im Paradies gehorcht und werde ihm stets gehorchen.“ Und während dieser Mann sich in Nazaret zur Arbeit begab und zurückkehrte, war es – was ein riesiges Universum betraf – buchstäblich wahr, dass „in ihm alle Schätze der Weisheit und des Wissens verborgen lagen“.
Das ganze Jahr über verlief für die Familie alles gut, ausgenommen für Jude. Jahrelang hatte Jakobus mit seinem jüngsten Bruder Schwierigkeiten; weder zeigte dieser Neigung zu einer festen Arbeit, noch konnte man sich auf ihn verlassen, dass er seinen Teil zu den Ausgaben der Familie beisteuerte. Obwohl er zu Hause lebte, versäumte er es, gewissenhaft seinen Anteil zum Familienunterhalt zu verdienen.
Jesus war ein Mann des Friedens und Jude Streitlust und zahlreiche patriotische Ausbrüche bereiteten ihm hin und wieder Verdruss. Jakobus und Joseph waren dafür, ihn hinauszuwerfen, aber Jesus willigte nicht ein. Wenn ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde, gab er nur den Rat: „Seid geduldig. Seid bedacht in euren Ratschlägen und beispielhaft durch euer Leben, damit euer junger Bruder zuerst den besseren Weg kennen lerne und dann gedrängt werde, euch auf ihm zu folgen.“ Der weise und liebevolle Ratschlag Jesu verhinderte einen Bruch in der Familie; sie blieben zusammen. Aber Jude kam erst nach seiner Heirat zur Vernunft.
Maria sprach selten über Jesu künftige Sendung. Jedes Mal, wenn darauf angespielt wurde, erwiderte Jesus nur: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Jesus hatte die schwierige Aufgabe mehr oder weniger abgeschlossen, seine Familie aus der Abhängigkeit von seiner unmittelbaren Anwesenheit zu entlassen. Er bereitete sich rasch auf den Tag vor, an dem er sein Heim in Nazaret bedenkenlos verlassen könnte, um die aktivere Einleitung seines wahren Dienstes an den Menschen zu beginnen.
Verliert nie die Tatsache aus den Augen, dass es die wichtigste Aufgabe Jesu während seiner 7. Selbsthingabe war, die Erfahrung der Geschöpfe zu erwerben und dadurch seine Souveränität über Nebadon zu erlangen. Und während er eben diese Erfahrung zusammentrug, vermittelte er Urantia und seinem gesamten Lokaluniversum die höchste Offenbarung seines Paradies Vaters. Neben diesen Vorhaben unternahm er es auch, die komplizierten Angelegenheiten dieses Planeten in ihrer Beziehung zur Rebellion Luzifers zu entwirren.
In diesem Jahr verfügte Jesus über mehr Muße als gewöhnlich, und er verbrachte viel Zeit mit Jakobus, den er in der Führung der Reparaturwerkstatt, und mit Joseph, den er in der Leitung der häuslichen Angelegenheiten unterwies. Maria spürte, dass er sich bereitmachte, sie zu verlassen. Sie zu verlassen, um wohin zu gehen? Um was zu tun? Sie hatte den Gedanken, dass Jesus der Messias war, so ziemlich aufgegeben. Sie konnte ihn nicht verstehen; sie konnte ihren erstgeborenen Sohn einfach nicht ergründen.
Jesus verbrachte in diesem Jahr einen großen Teil seiner Zeit mit den einzuelnen Familienmitgliedern. Er führte sie auf lange und häufige Spaziergänge auf die Anhöhe und durch die ländliche Gegend. Vor der Ernte brachte er Jude zu seinem Onkel auf den Bauernhof im Süden von Nazaret, aber Jude blieb nach der Ernte nicht lange dort. Er lief weg, und Simon fand ihn später bei den Fischern am See. Als Simon ihn nach Hause zurückbrachte, redete Jesus mit dem Ausreißer über alles, und da es dessen Wunsch war, Fischer zu werden, ging er mit ihm hinüber nach Magdala und gab ihn einem Verwandten, einem Fischer, in die Obhut; und von da an bis zu seiner Heirat arbeitete Jude recht gut und regelmäßig und behielt seinen Fischerberuf nach der Heirat bei. Endlich war der Tag gekommen, da alle Brüder Jesu ihren Beruf fürs Leben gewählt hatten und darin untergebracht waren. Die Voraussetzungen für Jesu Abschied von zu Hause waren geschaffen.
Im November gab es eine Doppelhochzeit. Jakobus heiratete Esta, und Miriam Jakob. Es war wirklich ein freudiger Anlass. Sogar Maria war wieder einmal glücklich, außer wenn ihr von Zeit zu Zeit bewusst wurde, dass Jesus sich zum Weggehen bereitmachte. Sie litt unter der Last einer großen Ungewissheit: Wenn Jesus sich doch nur zu ihr setzen und mit ihr frei über alles sprechen wollte, wie er es als Knabe getan hatte! Aber er blieb beharrlich verschlossen und schwieg sich über die Zukunft vollkommen aus.
Jakobus bezog mit seiner Braut Esta ein hübsches kleines Haus im Westteil der Stadt, das Geschenk ihres Vaters. Jakobus fuhr fort, den Haushalt seiner Mutter zu unterstützen, aber sein Beitrag wurde wegen der Heirat halbiert, und Jesus setzte Joseph in aller Form als Familienoberhaupt ein. Jede sandte nun jeden Monat sehr pflichtgetreu seinen Anteil nach Hause. Die Hochzeiten von Jakobus und Miriam übten auf Jude einen sehr wohltuenden Einfluss aus, und bevor er an dem der Doppelhochzeit folgenden Tag wegging, um zu seinen Fischgründen zurückzukehren, versicherte er Joseph, er könne sich auf ihn verlassen, „dass ich meine volle Pflicht erfülle, und wenn nötig, noch mehr“. Und er hielt Wort. Miriam lebte gleich neben Maria im Hause Jakobs, da der ältere Jakob neben seinen Vätern zur Ruhe gebettet worden war. Martha trat im Hause an Miriams Stelle, und noch ehe das Jahr zu Ende war, funktionierte die neue Organisation bestens.
Am Tage nach dieser Doppelhochzeit hatte Jesus mit Jakobus eine wichtige Unterredung. Er sagte ihm im Vertrauen, dass er sich darauf vorbereite, von zu Hause wegzugehen. Er übertrug das volle Eigentumsrecht an der Reparaturwerkstatt auf Jakobus, verzichtete in aller Form und feierlich auf seine Stellung als Oberhaupt der Familie Josephs und setzte seinen Bruder Jakobus in ergreifender Weise als „Haupt und Beschützer des Hauses meines Vaters“ ein. Er verfasste einen geheimen Vertrag, den sie beide unterzeichneten, und in dem vereinbart wurde, dass Jakobus hinfort als Gegenleistung für die Schenkung der Reparaturwerkstatt die volle finanzielle Verantwortung für die Familie übernehme und Jesus dadurch aus allen weiteren diesbezüglichen Pflichten entlasse. Nachdem der Vertrag unterzeichnet und der Haushaltsplan so aufgestellt war, dass die effektiven Ausgaben der Familie ohne jegliche Zuwendungen Jesu bestritten werden konnten, sagte Jesus zu Jakobus: „Aber, mein Sohn, ich werde euch weiterhin jeden Monat etwas senden, bis meine Stunde gekommen ist, aber was ich schicke, sollst du nach den jeweiligen Erfordernissen verwenden. Gib meine Geldmittel für die Bedürfnisse oder die Vergnügen der Familie aus, so wie es dir passend scheint. Gebrauche sie im Krankheitsfall, oder um unvorhergesehenen Notlagen zu begegnen, in die irgendein Familienmitglied geraten könnte.“ Auf diese Weise schickte sich Jesus an, die zweite, von zu Hause losgelöste Phase seines Erwachsenendaseins einzutreten, bevor er sich in aller Öffentlichkeit der Angelegenheiten seines Vaters annehmen würde.
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