DER AUFENTHALT IN ROM

Schrift 132

Da Gonod Grußbotschaften der indischen Fürsten an den römischen Herrscher Tiberius mitbrachte, erschienen die zwei Inder und Jesus vor ihm am 3. Tag nach ihrer Ankunft in Rom. Der mürrische Kaiser war an diesem Tag ungewöhnlich heiterer Laune und unterhielt sich lange mit den dreien. Und nachdem sie ihn verlassen hatten, bemerkte der Kaiser zum Adjutanten an seiner Rechten unter Anspielung auf Jesus: „Wenn ich die königliche Haltung und das liebenswürdige Benehmen dieses Burschen hätte, dann wäre ich wirklich ein Kaiser, nicht wahr?“

 

In Rom hatte Ganid feste Zeiten für das Studium und den Besuch der interessanten Orte der Stadt. Sein Vater hatte viele Geschäfte abzuwickeln, und da es sein Wunsch war, seinen Sohn zu einem würdigen Nachfolger in der Führung seiner ausgedehnten Handelsinteressen heranzubilden, hielt er die Zeit für gekommen, den Jungen in die Geschäftswelt einzuführen. Es gab in Rom viele indische Staatsangehörige, und oft begleitete einer von seinen eigenen Angestellten Gonod als Dolmetscher, so dass Jesus ganze Tage zu seiner Verfügung hatte; das gab ihm Zeit, um mit dieser 2.000.000 Einwohner zählenden Stadt gründlich vertraut zu werden. Er war häufig auf dem Forum anzutreffen, dem Zentrum des politischen, gesetzlichen und geschäftlichen Lebens. Und oft stieg er zum Kapitol hinauf und sann beim Anblick dieses prachtvollen, Jupiter, Juno und Minerva geweihten Tempels über die Sklaverei der Unwissenheit nach, in der diese Römer gehalten wurden. Er brachte auch viel Zeit auf dem Palatinhügel zu, wo sich der Kaiserpalast, der Apollotempel und die griechische und lateinische Bibliothek befand.

 

Zu dieser Zeit schloss das Römische Reich das ganze südliche Europa, Kleinasien, Syrien, Ägypten und Nordwestafrika ein; und unter seinen Einwohnern gab es Angehörige aus jedem Land der östlichen Hemisphäre. Jesu Wunsch, sich unter diese kosmopolitische Ansammlung von Sterblichen Urantias zu mischen und sie zu studieren, war der Hauptgrund, weshalb er in diese Reise eingewilligt hatte.

 

Jesus erfuhr in Rom vieles über die Menschen, aber die wertvollste der mannigfaltigen Erfahrungen seines sechsmonatigen Aufenthaltes in dieser Stadt war sein Kontakt mit den religiösen Führern der Hauptstadt des Kaiserreichs und sein auf sie ausgeübter Einfluss. Noch vor Ende der ersten Woche seiner Anwesenheit in Rom hatte Jesus die würdigsten Oberhäupter der Kyniker, der Stoiker und der Myterienkulte, insbesondere der Mithras-Anhänger, ausfindig gemacht und kennen gelernt. Ob sich Jesus nun darüber im Klaren war oder nicht, dass die Juden seine Sendung ablehnen würden, sah er doch mit großer Gewissheit voraus, dass seine Sendboten sehr bald nach Rom kommen würden, um das Königreich des Himmels zu verkünden; und so schickte er sich auf die erstaunlichste Art und Weise an, ihnen den Weg für eine bessere und sicherere Aufnahme der Botschaft zu ebnen. Er wählte unter den Stoikern 5, unter den Kynikern 11 und unter den Oberhäuptern der Mysterienkulte 16 führende Persönlichkeiten aus und verbrachte fast 6 Monate lang einen großen Teil seiner Freizeit in enger Gemeinschaft mit diesen Religionslehrern. Seine Unterrichtsmethode bestand hierin: Nie griff er ihre Irrtümer an oder erwähnte auch nur die Schwachstellen ihrer Lehren. In jedem Fall entnahm er dem, was sie lehrten, die Wahrheit und ging dann daran, diese in ihrem Gemüt so zu verschönern und erleuchten, dass diese erweiterte Wahrheit in kürzester Zeit den damit verbundenen Irrtum verdrängte; und so waren diese von Jesus unterrichteten Männer und Frauen später vorbereitet, die zusätzlichen und verwandten Wahrheiten in den Lehren der frühen christlichen Missionare zu erkennen. Und gerade diese frühe Annahme der Lehren der Evangeliumsprediger gab der raschen Ausbreitung des Christentums in Rom und von hier aus über das ganze Kaiserreich einen machtvollen Anstoß.

 

 

Die Bedeutung dieses bemerkenswerten Vorgehens kann angesichts der Tatsache besser gewürdigt werden, dass von den zweiunddreißig von Jesus in Rom unterrichteten religiösen Führern nur zwei unfruchtbar waren; die dreißig wurden zu Schlüsselfiguren im Aufbau des Christentums in Rom, und einige von ihnen halfen auch dabei, den wichtigsten mithraischen Tempel in die erste christliche Kirche der Stadt umzuwandeln. Wir, die wir die menschlichen Handlungen von den Kulissen aus und im Lichte von neunzehn Jahrhunderten betrachten, erkennen nur gerade drei Faktoren von ausschlaggebender Bedeutung, die anfänglich die Voraussetzung für die rasche Ausbreitung des Christentums in ganz Europa schufen, nämlich:

  1. Die Wahl von Simon Petrus zum Apostel und seine Beibehaltung.
  2. Das Gespräch mit Stephan in Jerusalem, dessen Tod dazu führte, dass Saulus von Tarsus gewonnen wurde.
  3. Die vorgängige Vorbereitung dieser dreißig Römer auf ihre spätere Führungsrolle in der neuen Religion in Rom und im ganzen Reich.

Bei allem, was sie erlebten, ahnten weder Stephan noch die dreißig Ausgewählten je, dass sie einst mit dem Manne gesprochen hatten, dessen Name zum Gegenstand ihrer religiösen Unterweisung werden sollte. Jesu Arbeit mit den ursprünglichen Zweiunddreißig war ausschließlich persönlicher Art. In seinen Bemühungen um sie kam der Schreiber von Damaskus nie mit mehr als drei von ihnen auf einmal zusammen, selten mit mehr als zwei; aber am häufigsten unterrichtete er sie einzeln. Und er konnte dieses große Unternehmen religiöser Ausbildung nur durchführen, weil diese Männer und Frauen nicht traditionsgebunden waren; sie waren nicht Opfer fest gefügter Vorurteile hinsichtlich aller künftigen religiösen Entwicklungen.

 

Unzählige Male hörten Petrus, Paulus und die anderen christlichen Lehrer in Rom in den so bald folgenden Jahren von diesem Schreiber aus Damaskus, der ihnen vorangegangen war und der so offensichtlich (aber ihrer Ansicht nach unbewusst) den Weg für ihr Kommen mit dem neuen Evangelium bereitet hatte. Obwohl Paulus die Identität dieses Schreibers aus Damaskus nie wirklich erahnte, gelangte er doch kurz vor seinem Tod aufgrund der Ähnlichkeit persönlicher Beschreibungen zu dem Schluss, dass der „Zeltmacher aus Antiochia“ auch der „Schreiber aus Damaskus“ sein musste. Als einmal Simon Petrus, als er in Rom predigte, einer Beschreibung des Schreibers aus Damaskus zuhörte, kam ihm der Gedanke, diese Person hätte Jesus sein können, aber er verwart ihn sogleich wieder, da er (so glaubte er) genau wusste, dass der Meister nie in Rom gewesen war.

 

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1. DIE WAHREN WERTE

 

Mit Angamon, dem Oberhaupt der Stoiker, sprach Jesus eine ganze Nacht lang zu Beginn seines Aufenthaltes in Rom. Dieser Mann wurde später ein enger Freund des Paulus und erwies sich als eine der stärksten Stützen der christlichen Kirche Roms. Im Wesentlichen und in heutiger Sprache ausgedrückt, lehrte Jesus Angamon Folgendes:

Der Maßstab für wahre Werte muss in der geistigen Welt und auf den göttlichen Ebenen der ewigen Realität gesucht werden. Ein aufsteigender Sterblicher muss alle tieferen, materiellen Maßstäbe als vorübergehend, partiell und untergeordnet erkennen. Der Wissenschaftler als solcher ist auf die Entdeckung der Beziehungen materieller Tatsachen untereinander beschränkt. Rein technisch hat er kein Recht zu erklären, er sei Materialist oder Idealist, denn dadurch nimmt er es auf sich, die Haltung eines wahren Wissenschaftlers aufzugeben, ist doch jede derartige Stellungnahme der Wesenskern der Philosophie.

 

Sofern das sittliche Bewusstsein und die geistigen Errungenschaften der Menschheit nicht entsprechend gesteigert werden, kann der unbeschränkte Fortschritt einer rein materialistischen Kultur schließlich zu einer Bedrohung für die Zivilisation werden. Eine rein materialistische Wissenschaft birgt in sich den Keim einer möglichen Zerstörung aller wissenschaftlichen Bestrebungen, denn eine solche Haltung kündigt den schließlichen Zusammenbruch einer Zivilisation an, die ihr Gespür für sittliche Werte verloren und sich von ihrem geistigen Ziel der Vervollkommnung abgekehrt hat.

 

Der materialistische Wissenschaftler und der extreme Idealist sind dazu bestimmt, sich immer in den Haaren zu liegen. Das trifft aber für jene Wissenschaftler und Idealisten nicht zu, die einen gemeinsamen Maßstab hoher sittlicher Werte und geistiger Bezugsebenen haben. In jedem Zeitalter muss es den Vertretern von Wissenschaft und Religion klar sein, dass über sie vom Prüfstand menschlicher Bedürfnisse aus gerichtet wird. Sie sollen es vermeiden, sich untereinander zu befehden und tapfer danach streben, durch erhöhte Hingabe an den Dienst für den menschlichen Fortschritt ihr Fortleben nach dem Tode stets neu zu rechtfertigen. Wenn die so genannten Wissenschaft oder Religion irgendeines Zeitalters falsch sind, dann müssen sie entweder ihre Tätigkeit einer Reinigung unterziehen oder aber untergehen, bevor eine neue materielle Wissenschaft oder geistige Religion einer wahreren und würdigeren Art aufkommt.

 

2. GUT UND BÖSE

 

Mardus war der anerkannte Führer der Kyniker Roms, und er wurde ein enger Freund des Schreibers von Damaskus. Tag für Tag unterhielt er sich mit Jesus, und Abend für Abend hörte er seinen göttlichen Unterweisungen zu. Unter den wichtigeren Gesprächen mit Mardus war eines, das die Frage dieses aufrichtigen Kynikers nach Gut und Böse beantwortete. Im Wesentlichen und in der Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts ausgedrückt, sagte Jesus:

Mein Bruder, gut und böse sind nur Worte, die relative Ebenen menschlichen Verständnisses des beobachtbaren Universums symbolisieren. Wer ethisch träge und sozial gleichgültig ist, kann die gängigen gesellschaftlichen Sitten zum Maßstab des Guten nehmen. Wer geistig indolent und sittlich stagnierend ist, mag die religiösen Gebräuche und Traditionen seiner Zeitgenossen zu seinen Richtlinien des Guten machen. Aber die Seele, die die Zeit überlebt und in die Ewigkeit eingeht, muss eine lebendige und persönliche Wahl zwischen Gut und Böse treffen. Beide werden bestimmt durch die wahren Werte geistiger Maßstäbe, festgelegt durch den göttlichen Geist, den der himmlische Vater ausgesandt hat, um in den Herzen der Menschen zu wohnen. Dieser innere Geist ist das Kriterium für das Fortleben der Persönlichkeit.

 

 

Das Gute ist wie die Wahrheit immer relativ und steht unfehlbar im Gegensatz zum Üblen. Gerade das Erkennen der Eigenschaften des Guten und der Wahrheit ermöglicht es den sich höher entwickelnden Seelen der Menschen, beim Wählen jene persönlichen Entscheidungen zu treffen, die für das ewige Fortleben wesentlich sind.

 

Das geistig blinde Individuum, das logischerweise dem Diktat der Wissenschaft, den gesellschaftlichen Gepflogenheiten und religiösen Dogmen folgt, steht in ernster Gefahr, seine sittliche Freiheit zu opfern und seine geistige Unabhängigkeit zu verlieren. Eine solche Seele ist dazu bestimmt, ein intellektueller Papagei, ein gesellschaftlicher Automat und ein Sklave der religiösen Autorität zu werden.

 

Das Gute erhebt sich immer zu neuen Ebenen zunehmender Freiheit in sittlicher Selbstverwirklichung und geistigem Fortschritt der Persönlichkeit – zur Entdeckung des innewohnenden Justierers und zur Identifikation mit ihm. Eine Erfahrung ist gut, wenn sie die Wertschätzung für das Schöne verstärkt, das sittliche Wollen steigert, die Erkenntnis der Wahrheit vertieft, die Fähigkeit, seine Mitmenschen zu lieben und ihnen zu dienen, vergrößert, die geistigen Ideale beflügelt und die höchsten menschli8chen und zeitgebundenen Beweggründe und die ewigen Pläne des innewohnenden Justierers eint. All dies führt geradewegs zu dem verstärkten Wunsch, den Willen des Vaters zu tun, und nährt die göttliche Leidenschaft, Gott zu8 finden und ihm ähnlicher zu werden.

 

Während eures Aufstiegs auf der universellen Entwicklungsleiter der Geschöpfe werdet ihr feststellen, dass das Gute zu- und das Üble abnehmen wird in vollkommener Übereinstimmung mit eurer Fähigkeit, das Gute zu erleben und die Wahrheit zu erkennen. Die Möglichkeit, im Irrtum zu verharren oder die Erfahrung des Üblen zu machen, wird nicht völlig verschwinden, bevor die aufsteigende menschliche Seele die endgültigen Geistesebenen erreicht hat.

 

Das Gute ist lebendig, relativ, stets im Fortschritt begriffen, ohne Ausnahme eine persönliche Erfahrung und steht auf ewig in Beziehung zur Erkenntnis von Wahrheit und Schönheit. Man findet das Gute durch die Erkenntnis der positiven Wahrheitswerte der geistigen Ebene. Diese Werte müssen in der menschlichen Erfahrung einen Kontrast in ihrem negativen Gegenstück finden, in den Schatten des potentiell Üblen.

 

Bis ihr die Ebenen des Paradieses erreicht habt, bleibt das Gute immer mehr suche als Besitz, mehr Ziel als Erfahrung von Erreichtem. Aber auch während euch nach Rechtschaffenheit hungert und dürstet, erfahrt ihr in der teilweisen Erlangung des Guten wachsende Befriedigung. Die Gegenwart von Gut und Böse in der Welt ist in sich ein positiver Beweis für die Existenz und Realität des sittlichen Wollens des Menschen und seiner Persönlichkeit, die diese Werte erkennt und auch fähig ist, zwischen ihnen zu wählen.

 

Wenn die aufsteigenden Sterblichen das Paradies erreichen, hat ihre Fähigkeit das Selbst mit den wahren Geisteswerten zu identifizieren, so sehr zugenommen, dass sie die Vollkommenheit im Besitz des Lichts des Lebens erlangen. Eine solche vervollkommnete geistige Persönlichkeit wird auf göttliche und geistige Weise mit den positiven und höchsten Eigenschaften des Guten, Schönen und Wahren so ganz und gar eins, dass für diesen rechtschaffenen Geist keine Möglichkeit mehr besteht, den geringsten negativen Schatten potentieller Schlechtigkeit zu werfen, wenn er der forschenden Helle des göttlichen Lichts der unendlichen Gebieter des Paradieses ausgesetzt wird. In allen derartig vergeistigten Persönlichkeiten ist die Güte nicht mehr partiell, kontrastierend und relativ; sie ist vollkommen göttlich geworden und voll des Geistes; sie nähert sich der Reinheit und Vollkommenheit des supremen.

 

Die Möglichkeit des Üblen ist bei jeder sittlichen Entscheidung notwendig, nicht aber seine Verwirklichung. Ein Schatten ist nur relativ wirklich. Das verwirklichte Übel ist nicht notwendig als persönliche Erfahrung. Das potentielle Übel hat eine ebenso gute Wirkung als Entscheidungsstimulus in den Bereichen sittlichen Fortschritts auf den niedrigeren Ebenen geistiger Entwicklung. Das Üble wird nur dann zu einer Realität der persönlichen Erfahrung, wenn ein sittlicher Verstand sich dafür entscheidet.

 

 

3, WAHRHEIT UND GLAUBE

 

Nabon war ein griechischer Jude und führend unter den Leitern des wichtigsten Mysterienkults Roms, des mithraischen. Dieser Hohepriester des Mithraismus hatte viele Unterredungen mit dem Schreiber aus Damaskus, aber am nachhaltigsten beeindruckte ihn eines Abends ihre Diskussion über Wahrheit und Glauben. Nabon hatte daran gedacht, Jesus zu bekehren und ihm sogar vorgeschlagen, als Mithraslehrer daran gedacht, Jesus zu bekehren und ihm sogar vorgeschlagen, als Mithraslehrer nach Palästina zurückzukehren. Fern lag ihm der Gedanke, dass Jesus ihn darauf vorbereitete, sich als einer der ersten z8um Avangelium des Königreichs zu bekehren. In moderner Ausdrucksweise neu formuliert, sagte Jesus im Wesentlichen Folgendes:

Die Wahrheit kann nicht mit Worten definiert werden, sondern nur, indem man sie lebt. Wahrheit ist immer mehr als Kenntnis. Die Kenntnis bezieht sich auf beobachtete Dinge, aber die Wahrheit überschreitet solche rein materiellen Ebenen, indem sie sich der Weisheit zugesellt und so unwägbare Dinge wie menschliche Erfahrung und sogar geistige und lebendige Realitäten umfasst. Das Wissen entstammt der Wissenschaft; die Weisheit wahrer Philosophie; die Wahrheit der religiösen Erfahrung geistigen Lebens. Das Wissen beschäftigt sich mit Tatsachen; die Weisheit mit Beziehungen, die Wahrheit mit Werten der Realität.

 

Der Mensch neigt dazu, die Wissenschaft zu konkretisieren, die Philosophie zu formulieren und die Wahrheit in Dogmen zu fassen, weil sein Denken träge ist in der Anpassung an die fortgesetzten Existenzkämpfe und auch, weil er fürchterliche Angst vor dem Unbekannten hat. Nur langsam ändert der natürliche Mensch seine Denkgewohnheiten und Lebenstechniken.

 

Offenbarte Wahrheit, persönlich entdeckte Wahrheit ist das höchste Entzücken der menschlichen Seele; sie ist die gemeinsame Schöpfung des materiellen Verstandes und des innewohnenden Geistes. Das ewige Heil der die Wahrheit erkennenden und die Schönheit liebenden Seele wird durch dieses Hungern und Dürsten nach dem Guten gewährleistet, welches den Sterblichen dahin bringt, mehr und mehr dem einzigen Ziel zu leben, den Willen des Vaters zu tun, Gott zu finden und ihm ähnlich zu werden. Nie gibt es einen Konflikt zwischen wahrem Wissen und Wahrheit. Konflikte kann es geben zwischen Wissen und dem, woran der Mensch glaubt – seinen Anschauungen, die, von Vorurteilen getönt und durch Angst verzerrt, von der großen Furcht beherrscht werden, mit neuen Tatsachen materieller Entdeckungen der geistigen Fortschritts konfrontiert zu werden.

Aber ohne die Ausübung des Glaubens kann Wahrheit nie menschlicher Besitz werden. Das ist wahr, weil die Gedanken des Menschen, seine Weisheit, Ethik und Ideale nie höher reichen werden als sein Glaube, seine erhabenste Hoffnung. Und ein solcher wahrer Glaube fußt ganz und gar auf tiefem Nachdenken, aufrichtiger Selbstkritik und kompromisslosem sittlichem Bewusstsein. Glaube ist die Inspiration der vergeistigten schöpferischen Vorstellungskraft.

 

Der Glaube bewirkt die Befreiung der übermenschlichen Tätigkeiten des göttlichen Funkens, des unsterblichen Keims, der dem menschlichen Verstand innewohnt und das Potential des ewigen Lebens darstellt. Die Pflanzen und die Tiere überleben in der Zeit durch die Technik der Weitergabe identischer Partikel ihrer selbst von einer Generation zur anderen. Die menschliche Seele (die Persönlichkeit des Menschen) überlebt den irdischen Tod durch die enge Verbindung ihrer Identität mit dem ihr innewohnenden Funken der Göttlichkeit, der unsterblich ist und die Aufgabe hat, die menschliche Persönlichkeit auf einer folgenden, höheren Ebene progressiven Daseins im Universum fortbestehen zu lassen. Der verborgene Keim in der menschlichen Seele ist ein unsterblicher Geist. Die zweite Generation der Seele ist die erste in einer Abfolge von Erscheinungsformen der Persönlichkeit in geistigen und immer höheren Existenzen, die erst dann ihren Abschluss findet, wenn diese göttliche Wesenheit die Quelle ihrer Existenz, die persönliche Quelle aller Existenz, Gott, den Universalen Vater, erreicht.

 

Das menschliche Leben dauert fort – lebt fort – weil es im Universum eine Funktion hat, nämlich die Aufgabe, Gott zu finden. Die durch den Glauben aktivierte Seele des Menschen kann nicht eher anhalten, als bis sie dieses Ziel ihrer Bestimmung erreicht hat; und wenn sie dieses göttliche Ziel einmal erreicht hat, kann sie nie mehr ein Ende nehmen, da sie wie Gott geworden ist – ewig.

Geistige Evolution ist eine Erfahrung zunehmender und freier Wahl des Guten, die mit einer analogen fortwährenden Abnahme der Möglichkeit für das Üble einhergeht. Mit der Erlangung der Endgültigkeit in der Wahl des Guten und mit der vollen entwickelten Fähigkeit, die Wahrheit zu würdigen, entsteht eine Vollkommenheit an Schönheit und Heiligkeit, deren Rechtschaffenheit für immer die Möglichkeit des Auftauchens auch nur der Vorstellung des potentiell Üblen verhindert. Eine solche Gott kennende Seele wirft keinen Schatten, der von ihrer Unschlüssigkeit zwischen Gut und Böse herrührte, wenn sie auf einer so hohen Geistesebene göttlicher Güte wirkt.

Für jede Seele, die danach strebt, mit dem unsterblichen, ihr innewohnenden Geistesfragment des Universalen Vaters identisch zu werden, bedeutet die Gegenwart des Paradies Geistes im menschlichen Verstand des Versprechen der Offenbarung und die feste Gewähr für eine ewige Existenz göttlichen Fortschritts.

 

Der Fortschritt im Universum ist durch wachsende Freiheit der Persönlichkeit charakterisiert, da er einhergeht mit dem fortschreitenden Erreichen immer höherer Ebenen des Selbstverständnisses und der daraus hervorgehenden willentlichen Selbstbeherrschung. Das Erreichen der vollendeten geistigen Selbstbeherrschung ist gleichbedeutend mit vollkommener Freiheit im Universum und vollkommener persönlicher Freiheit. Der Glaube nährt und stützt die menschliche Seele inmitten der Verwirrung ihrer frühen Orientierungsversuche in einem so riesigen Universum, während das Gebet zum großen Einiger wird zwischen den verschiedenen Inspirationen der schöpferischen Vorstellungskraft und dem vorwärts treibenden Glauben einer Seele, die versucht, sich mit den Geistidealen der ihr innewohnenden und zugeordneten göttlichen Gegenwart zu identifizieren.

 

Zutiefst beeindrucken Nabon diese Worte ebenso wie alle anderen Gespräche mit Jesus. Diese Wahrheiten hörten nicht auf, in seinem Herzen zu brennen, und er war den später auftretenden Predigern des Evangeliums Jesu eine große Hilfe.

 

 

4. PERSÖNLICHER ZUSPRUCH

 

Jesus widmete während seines Romaufenthaltes nicht alle seine freie Zeit der Aufgabe, Männer und Frauen darauf vorzubereiten, künftige Jünger des kommenden Königreichs zu werden. Er verbrachte viel Zeit damit, ei8ne gründliche Kenntnis aller Menschenrassen und –klassen zu erwerben, die in dieser größten und kosmopolitischen Stadt der Welt lebten. Bei jedem dieser zahlreichen Kontakte mit Menschen verfolgte Jesus eine doppelte Absicht: Er wünschte, ihre Reaktionen auf das Leben, das sie als Menschen führten, kennen zu lernen, und er beabsichtigte auch, etwas zu sagen und zu tun, was dieses Leben reicher und lebenswerter machen würde. Seine religiösen Unterweisungen während dieser Wochen unterschieden sich nicht von jenen, die sein späteres Leben als Lehrer der Zwölf und als Prediger vor der Menge charakterisierten.

 

Der Schwerpunkt seiner Botschaft war immer: die Tatsache der Liebe des himmlischen Vaters und die Wahrheit seiner Barmherzigkeit zusammen mit der frohen Nachricht, dass der Mensch ein Glaubenssohn dieses Gottes der Liebe ist. Jesu übliche Technik im gesellschaftlichen Umgang bestand darin, die Leute durch Fragen aus sich herauszulocken und in ein Gespräch mit ihm zu ziehen. Die Unterhaltung begann meistens damit, dass er ihnen Fragen stellte, und endete damit, dass sie ihm Fragen stellten. Er war ein ebenso meisterhafter Lehrer im Stellen wie im Beantworten von Fragen. In der Regel lehrte er jene am meisten, zu denen er am wenigsten sagte. Diejenigen, die aus seiner persönlichen Zuwendung den größten Gewinn zogen, waren überlastete, ängstliche und niedergeschlagene Sterbliche, denen die Gelegenheit, ihr Herz vor einem mitfühlenden und verstehenden Zuhörer – und Jesus war all das und mehr – auszuschütten, eine große Wohltat bedeutete. Und nach dem diese unausgeglichenen menschlichen Wesen ihm ihre Nöte erzählt hatten, war er immer in der Lage, praktische und unmittelbar hilfreiche Anregungen zur Behebung ihrer wirklichen Schwierigkeiten zu geben. Dabei versäumte er es nie, Worte augenblicklicher Ermutigung und sofortigen Trostes zu sagen. Und ausnahmslos pflegte er zu diesen Betrübten über die Liebe Gottes zu sprechen und sie durch verschiedene Methoden davon in Kenntnis zu setzen, dass sie die Kinder dieses liebenden Vaters im Himmel seien.

Auf diese Weise kam Jesus während seines Romaufenthaltes persönlich mit über fünfhundert irdischen Sterbli8chen in lebevollen und ermutigenden Kontakt. Er gelangte dadurch zu einer Kenntnis der verschiedenen menschlichen Rassen, die er in Jerusalem nie und auch in Alexandria kaum je hätte erwerben können. Er betrachtete diese sechs Monate stets als einen der fruchtbarsten und aufschlussreichsten Abschnitte seines irdischen Lebens.

 

Wie zu erwarten war, konnte ein so vielseitiger und dynamischer Mann nicht sechs Monate lang in der Metropole der Welt in dieser Weise wirken, ohne das zahlreiche Personen an ihn herangetreten wären, die seine Dienste in Anspruch nehmen wollten, sei es für ein Geschäft, oder – häufiger – für ein Unterrichtsprojekt, eine soziale Reform oder eine religiöse Bewegung. Es wurden ihm mehr als ein Dutzend solcher Angebote gemacht, und jedes nutzte er als Gelegenheit, einen geistig veredelnden Gedanken durch wohlüberlegte Worte oder eine Gefälligkeit zu übermitteln. Jesus liebte es sehr, für alle möglichen Menschen etwas, und seien es auch nur ganz kleine Dinge, zu tun.

Wird vervollständigt, sobald Jesu Geschickte von der Kreuzigung bis Pfingsten vollständig steht. 29.03.2007 SHANA