VOR DEM GERICHT DES SANHEDRINS SCHRIFT 184
Beauftragte des Hannas hatten den Hauptmann der römischen Soldaten insgeheim angewiesen, Jesus nach seiner Verhaftung unverzüglich in seinen Palast zu bringen. Der frühere Hohepriester wünschte sein Prestige als oberste geistliche Autorität der Juden aufrechtzuerhalten. Aber er hielt Jesus noch in anderer Absicht mehrere Stunden lang in seine Hause fest: Er wollte Zeit gewinnen, um das Gericht des Sanhedrins dem Gesetz entsprechend einberufen zu können. Es war ungesetzlich, das Richterkollegium des Sanhedrins vor dem Zeitpunkt der Darbringung des Morgenopfers im Tempel zu versammeln, und dieses Opfer wurde etwas um 3 Uhr in der Frühe dargebracht.
Hannas wusste, dass ein Richtergremium aus Sanhedristen im Palast seines Schwiegersohnes Kajaphas wartete. An die 30 Mitglieder des Sanhedrins hatten sich um Mitternacht im Hause des Hohenpriesters versammelt, um bereit zu sein, über Jesus zu Gericht zu sitzen, sobald er vor sie gebracht würde. Es waren nur jene Mitglieder zugegen, die in heftiger und offener Opposition zu Jesus und seinen Lehren standen, zumal 23 von ihnen genügten, um einen Gerichtshof zu bilden. Jesus verbrachte etwa 3 Stunden im Palast des Hannas am Ölberg, nicht weit vom Garten Getsemani, wo sie ihn verhaftet hatten. Johannes Zebedäus fühlte sich im Hause des Hannas nicht nur infolge der Weisungen des römischen Hauptmanns frei und sicher, sondern auch, weil die älteren Bediensteten ihn und seinen Bruder Jakobus von vielen früheren Besuchen im Palast her gut kannten, war der ehemalige Hohepriester doch ein entfernter Verwandter ihrer Mutter Salome.
1. VERNEHMUNG DURCH HANNAS
Mit seinem Reichtum aus den Tempeleinkünften, mit seinem Schwiegersohn als amtierendem Hohenpriester und mit seinen Beziehungen zu den römischen Behörden war Hannas in der Tat die mächtigste Person im ganzen Judentum. Er war ein sanfter und diplomatischer Planer und Ränkeschmied. Er wünschte, die Angelegenheit der Beseitigung Jesu selber zu leiten; er hatte Bedenken, ein derart wichtiges Unternehmen ganz seinem barschen und aggressiven Schwiegersohn zu überlassen. Hannas wollte sichergehen, dass der Prozess des Meisters in den Händen der Sadduzäer blieb; angesichts der Tatsache, dass praktisch alle Angehörigen des Sanhedrins, die für Jesu Sache eintraten, Pharisäer waren, befürchtete er, es könnte sich bei einigen von ihnen Sympathie regen.
Hannas hatte Jesus einige Jahre lang nicht gesehen, nicht wieder, seit der Meister bei ihm zu Hause vorgesprochen und ihn sogleich wieder verlassen hatte, als er festestellte, wie kalt und reserviert er empfangen wurde. Hannas hatte daran gedacht, diese frühe Begegnung auszunutzen und so zu versuchen, Jesus zum Verzicht auf seine Prätentionen und zum Verlassen Palästinas zu bewegen. Es widerstrebte ihm, sich an der Ermordung eines guten Menschen zu beteiligen, und er war zu dem Schluss gekommen, Jesus könnte vielleicht eher wählen, das Land zu verlassen, als den Tod zu erleiden. Aber als Hannas sich dem kräftigen und entschlossenen Galiläer gegenüber sah, wusste er sofort, dass es unnütz wäre, solche Vorschläge zu machen. Jesus war von noch größerer Majestät und Gelassenheit, als er ihn in Erinnerung hatte.
Als Jesus jung war, hatte sich Hannas sehr für ihn interessiert, aber jetzt sah er seine Einkünfte bedroht durch Jesu jüngste Tat, die Verjagung der Geldwechsler und Händler aus dem Tempel. Dieser Akt hatte in dem ehemaligen Hohenpriester weit größere Feindschaft geweckt als Jesu Lehren.
Hannas betrat seinen weiten Audienzraum, setzte sich auf einen großen Stuhl und befahl, Jesus vor ihn zu bringen. Einige Augenblicke lang betrachtete er den Meister schweigend und sagte dann: „Es ist dir wohl klar, dass etwas gegen dein Lehren getan werden muss, da du den Frieden und die Ordnung in unserem Lande störst.“ Als Hannas Jesus fragend anblickte, schaute ihm der Meister gerade in die Augen, erwiderte aber nichts. Und wieder sprach Hannas: „Wie heißen deine Jünger abgesehen von Simon Zelotes, dem Unruhestifter?“ Wieder schaute Jesus auf ihn herab, gab aber keine Antwort.
Jesu Weigerung, seine Fragen zu beantworten, brachte Hannas in beträchtliche Verwirrung, so sehr, dass er zu ihm sagte: „Ist es dir einerlei, ob ich freundlich zu dir bin oder nicht? Scherst du dich nicht um die Macht, die ich habe, den Ausgang des dir bevorstehenden Prozesses zu bestimmen?“ Als Jesus das hörte, sagte er: „Hannas, du weißt, dass du keine Macht über mich haben könntest, wenn mein Vater es nicht zuließe. Einige möchten den Menschensohn aus Unwissenheit umbringen; sie wissen es nicht besser, aber du, Freund, weiß, was du tust. Wie kannst du also das Licht Gottes zurückweisen?“
Die freundliche Art, in der Jesus zu Hannas sprach, brachte diesen fast aus der Fassung. Aber er hatte bei sich bereits beschlossen, dass Jesus entweder Palästina verlassen oder sterben müsse. Und so nahm er seinen Mut zusammen und fragte: „Was genau versuchst du, das Volk zu lehren? Was zu sein erhebst du den Anspruch?“ Jesus antwortete: „Du weißt sehr wohl, dass ich offen zu der Welt gesprochen habe. Ich habe in den Synagogen und viele Male im Tempel gelehrt, wo alle Juden und viele Heiden mich gehört haben. Ich habe nichts im Geheimen gesprochen. Weshalb fragst du mich dann nach meiner Lehre? Wieso bestellst du nicht jene vor dich, die mich gehört haben, und erkundigst dich bei ihnen? Sieh, ganz Jerusalem hat gehört, was ich gesprochen habe, auch wenn du selber diese Lehren nicht gehört hast.“ Aber noch bevor Hannas etwas erwidern konnte, schlug der Haushofmeister des Palastes, der daneben stand, Jesus mit der Hand ins Gesicht und sagte: „Wie kannst du es wagen, dem Hohenpriester in dieser Art zu antworten?“ Hannas richtete kein Wort des Tadels an seinen Verwalter, aber Jesus wandte sich an ihn mit den Worten: „Mein Freund, wenn ich Übles gesagt habe, dann zeuge gegen das Üble: wenn ich aber die Wahrheit gesprochen habe, warum schlägst du mich dann?“
Obwohl Hannas bedauerte, dass sein Verwalter Jesus geschlagen hatte, war er doch zu stolz, um der Sache Beachtung zu schenken. In seiner Verwirrung ging er in einen anderen Raum und ließ Jesus fast 1 Stunde lang mit den Hausdieners und Tempelwächtern allein.
Als er zurückkam, trat er auf Jesus zu und sagte: „Erhebst du den Anspruch der Messias, der Befreier Israels zu sein?“ Jesus sagte: „Hannas, du kennst mich seit meiner Jugendzeit. Du weißt, dass ich nichts anderes zu sein beanspruche als das, was mein Vater bestimmt hat, und dass ich zu allen Menschen gesandt worden bin, zu den Heiden wie zu den Juden.“ Da sagte Hannes: „Man hat mir gesagt, dass du behauptet hast, der Messias zu sein. Ist das wahr?“ Jesus sah Hannas an, gab aber nur zur Antwort: „So hast du gesagt.“
Um diese Zeit kamen Boten vom Palast des Kajaphas an, um sich zu erkundigen, um welche Zeit Jesus vor das Gericht des Sanhedrins geführt würde, und da der Tagesanbruch näher kam, befand Hannas es für das Beste, Jesus gebunden und unter Aufsicht der Tempelwächter zu Kajaphas zu schicken. Er selbst folgte ihnen bald nach.
2. PETRUS IM PALASTHOF
Als der Trupp von Wächter und Soldaten sich dem Eingang zum Palast des Hannas näherte, ging Johannes Zebedäus an der Seite des Hauptmanns der römischen Soldaten. Judas hatte sich ein Stück zurückfallen lassen, und Simon Petrus folgte weit hinten nach. Nachdem Johannes mit Jesus und den Wächtern den Palasthof betreten hatte, kam Judas an das Tor; aber als er Jesus und Johannes erblickte, ging er zum Haus des Kajaphas weiter, wo, wie er wusste, später der richtige Prozess des Meisters stattfinden würde. Kurz nach Judas’ Weggang traf Simon Petrus ein, und als er vor dem Tor stand, erblickte Johannes ihn gerade, als man im Begriff war, Jesus in den Palast zu führen. Die Pförtnerin am Tor kannte Johannes, und als er sich mit der bitte an sie wandte, Petrus einzulassen, tat sie es gerne.
Nachdem er den Hof betreten hatte, steuerte Petrus auf ein Holzkohlenfeuer zu und suchte sich zu wärmen, denn die Nacht war kühl. Er fühlte sich hier unter Jesu Feinden sehr fehl am Platze, und das war er in der Tat. Der Meister hatte ihm nicht wie Johannes aufgetragen, in seiner Nähe zu bleiben. Petrus gehörte zu den anderen Aposteln, die ausdrücklich gewarnt worden waren, ihr Leben während der Dauer des Prozesses und der Kreuzigung ihres Meisters nicht aufs Spiel zu setzen.
Kurz bevor er beim Palasttor ankam, warf Petrus sein Schwert weg, so dass er den Hof des Hannas unbewaffnet betrat. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander; er konnte es kaum fassen, dass Jesus verhaftet worden war. Er konnte die Realität der Situation nicht begreifen – dass er hier im Hofe des Hannas war und sich neben den Bediensteten des Hohenpriesters am Feuer wärmte. Er fragte sich, was die anderen Apostel wohl taten, überlegte hin und her, wie es kam, dass Johannes Einlass in den Palast erhalten hatte, und gelangte zu dem Schluss, es sei wohl, weil die Diener ihn kannten, da er die Türsteherin geheißen hatte, ihn, Petrus, einzulassen.
Kurz nachdem die Türsteherin ihm geöffnet hatte, kam sie zu ihm herüber, während er sich am Feuer wärmte, und sagte schelmisch: „Bist du nicht auch einer der Jünger dieses Mannes?! Nun hätte Petrus über dieses Erkannt werden nicht erstaunt sein dürfen, war es doch Johannes gewesen, der das Mädchen gebeten hatte, ihn durch das Palasttor einzulassen; aber er befand sich in einem derartigen Zustand nervöser Anspannung, dass die Identifizierung als Jünger ihn aus dem Gleichgewicht brachte und er, nur von einem einzigen Gedanken beherrscht – dem Gedanken, mit dem Leben davonzukommen – auf die Frage der Magd sogleich zur Antwort gab: „Bin ich nicht.“ Bald darauf trat eine andere Magd vor Petrus und fragte: „Habe ich dich nicht im Garten gesehen, als sie diesen Kerl verhafteten? Bist du nicht auch einer von seinen Anhängern?“ Petrus war jetzt vollends bestürzt; er sah keinen Weg, wie er diesen Anklägerinnen heil entrinnen könnte; also stellte er jede Verbindung mit Jesus vehement in Abrede, indem er sagte: „Ich kenne diesen Mann nicht, noch bin ich einer seiner Anhänger.“
Kurz darauf zog die Pförtnerin Petrus zur Seite und sagte: „Ich bin sicher, dass du ein Jünger von diesem Jesus bist, nicht nur, weil einer seiner Anhänger mich gebeten hat, dich in den Hof einzulassen, sondern weil dich meine Schwester hier mit diesem Mann im Tempel gesehen hat. Warum stellst du es in Abrede?“ Als Petrus hörte, wessen ihn die Magd bezichtigte, bestritt er unter viel Fluchen und Schwören, Jesus zu kennen und sagt wiederum: „Ich bin kein Anhänger dieses Mannes; ich kenne ihn nicht einmal; ich habe nie zuvor von ihm gehört.“
Petrus entfernte sich für eine Weile von der Feuerstelle und ging im Hof umher. Er wäre gerne geflohen, aber er hatte Angst, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Da ihm kalt wurde, kehrte er zur Feuerstelle zurück. Da sagte einer der herumstehenden Männer zu ihm: „Bestimmt bist du einer von den Jüngern dieses Mannes. Dieser Jesus ist ein Galiläer, und deine Sprache verrät dich, denn auch du sprichst wie ein Galiläer.“ Und erneut leugnete Petrus jede Verbindung mit seinem Meister.
In seiner großen Verstörung suchte Petrus den Kontakt mit seinen Anklägern dadurch zu vermeiden, dass er sich vom Feuer weg begab und allein beim Portal blieb. Nach mehr als 1 Stunde dieses Alleinseins trafen die Türhüterin und ihre Schwester zufällig auf ihn, und wiederum bezichtigten ihn beide unter Sticheleien, ein Anhänger Jesu zu sein. Und wiederum stritt er ab, wessen man ihn beschuldigte. Gerade als er erneut jede Verbindung mit Jesus geleugnet hatte, krähte der Hahn, und Petrus erinnerte sich der warnenden Worte, die sein Meister zuvor in derselben Nacht zu ihm gesprochen hatte. Als er so dastand, mit schwerem Herzen und von Schuldgefühlen niedergedrückt, gingen die Türen des Palastes auf und die Wächter führten Jesus auf dem Weg zu Kajaphas vorüber. Als der Meister an Petrus vorbeikam, sah er im Schein der Fackeln den Ausdruck von Verzweiflung auf dem Gesicht seines früher so selbstsicheren und oberflächlich mutigen Apostels, und er wandte sich um und sah Petrus an. Petrus vergaß diesen Blick zeit seines Lebens nicht. In diesem Blick mischten sich Mitleid und Liebe in einer Weise, wie kein sterblicher Mensch sie je auf dem Gesicht des Meisters gesehen hatte.
Nachdem Jesus und die Wächter aus dem Palasttor geschritten waren, folgte Petrus ihnen nach, aber nur eine kurze Strecke. Er konnte nicht mehr weitergehen. Er setzte sich an den Straßenrand und weinte bitterlich. Und als er diese Tränen der Qual vergossen hatte, lenkte er seine Schritte zum Lager zurück, wo er seinen Bruder Andreas zu finden hoffte. Aber dort angekommen, fand er nur David Zebedäus. Dieser beauftragte einen Boten damit, ihn zu seinem Bruder zu führen, der sich in Jerusalem versteckt hielt.
All das widerfuhr Petrus im Palasthof des Hannas am Ölberg. Er folgte Jesus nicht bis zum Palast des Hohenpriesters Kajaphas. Die Tatsache, dass ein Hahnenschrei Petrus zum Bewusstsein brachte, seinen Meister wiederholt verleugnet zu haben, zeigt, dass all das sich außerhalb von Jerusalem abspielte; denn es war gesetzeswidrig, im Stadtinnern Federvieh zu halten. Während Petrus vor dem Portal auf- und abging, um sich warm zuhalten, und bis der Hahnenschrei ihn zur Besinnung brachte, dachte er nur, wie geschickt er den Anschuldigungen der Bediensteten ausgewichen war und wie er ihre Absicht, ihn mit Jesus zu identifizieren, durchkreuzt hatte. Fürs Erste dachte er nur daran, dass diese Diener weder ein moralisches noch ein legales Recht hätten, ihn in dieser Weise auszufragen, und er beglückwünschte sich wirklich zu der Art und Weise, wie er es seiner Meinung nach vermeiden hatte, identifiziert und womöglich verhaftet und ins Gefängnis geworfen zu werden. Erst als der Hahn krähte, fiel Petrus ein, dass er seinen Meister verleugnet hatte. Erst als Jesus ihn anschaute, wurde er sich bewusst, dass er seinen Privilegien eines Botschafters des Königreichs nicht gerecht geworden war.
Nachdem er den ersten Schritt auf dem Pfad des Kompromisses und des geringsten Widerstandes getan hatte, sah Petrus keine andere Lösung mehr, als an dem einmal eingeschlagenen Kurs festzuhalten. Es bedarf eines großen und vornehmen Charakters, um nach einem Start in die falsche Richtung umzukehren und den richtigen Weg einzuschlagen. Allzu oft neigen wir dazu, unser Weitergehen auf dem irrtümlichen Pfad zu rechtfertigen, wenn wir ihn einmal betreten haben. Petrus glaubte nie ganz daran, dass hm vergeben werden könnte, bis er seinem Meister nach der Auferstehung begegnete und sah, dass er von ihm genau so wie vor der Erfahrung dieser tragischen Nacht der Verleugnungen angenommen wurde.
3. VOR DEM GERICHTSHOF DER SANHEDRISTEN
Es war etwa ½ 4 Uhr, als der Priesterführer Kajaphas an diesem Freitagmorgen das Untersuchungsgericht der Sanhedristen zur Ordnung rief und befahl, ihnen Jesus zu seinem förmlichen Prozess vorzuführen. Bei 3 früheren Gelegenheiten hatte der Sanhedrin in Abstimmungen mit großer Mehrheit Jesu Tod dekretiert, hatte er auf Grund von informellen Anklagen, die auf Gesetzesbruch, Gotteslästerung und Verhöhnungen der Traditionen der Väter Israels lauteten, entschieden, er verdiene den Tod.
Dies war keine ordnungsgemäß einberufene Tagung des Sanhedrins, und sie fand nicht am üblichen Ort, im Saal aus behauenem Stein im Tempel, statt. Es war ein besonderes Prozessgremium von etwa 30 Sanhedristen, die in den Palast des Hohenpriesters einberufen worden waren. Johannes Zebedäus war mit Jesus während dieses ganzen so genannten Prozesses anwesend. Wie sehr schmeichelte es doch diesen höchsten Priestern, Schriftgelehrten, Sadduzäern und wenigen Pharisäern, dass Jesus, der ihre Stellung in Frage gestellt und ihre Autorität herausgefordert hatte, nun sicher in ihren Händen war! Und sie waren fest entschlossen, ihn nicht lebend aus ihrem Rachegriff zu entlassen.
Gewöhnlich gingen die Juden mit großer Vorsicht vor, wenn sie jemanden wegen eines Kapitalverbrechens vor Gericht stellten, und sorgten sich strickte Beachtung der Gerechtigkeit bei der Zeugenauswahl und der ganzen Prozessführung. Aber in diesem Fall war Kajaphas mehr Ankläger als unbefangenen Richter.
Jesus erschien vor diesem Gericht in seiner üblichen Kleidung und mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen. Der ganze Gerichtshof war überrascht und ziemlich verwirrt ob seiner majestätischen Erscheinung. Nie hatten sie einen solchen Gefangenen gesehen, noch eine derartige Selbstbeherrschung an einem Menschen festgestellt, dessen Leben bei dem Prozess auf dem Spiel stand.
Das jüdische Gesetz verlangte, dass mindestens 2 Zeugen in irgendeinem Punkt übereinstimmen mussten, bevor gegen den Gefangenen Anklage erhoben werden konnte. Judas konnte nicht als Zeuge gegen Jesus benutzt werden, weil das jüdische Gesetz die Aussage eines Verräters ausdrücklich verbot. Mehr als 20 falsche Zeugen waren da, um gegen Jesus auszusagen, aber ihre Aussagen waren derart widersprüchlich und so offensichtlich frei erfunden, dass selbst die Sanhedristen sich dieses Schauspiels sehr schämten. Jesus stand da und schaute gütig auf die Meineidigen, und allein sein Gesichtsausdruck brachte die lügnerischen Zeugen aus der Fassung. Während all dieser falschen Aussagen sprach der Meister kein einziges Wort; er erwiderte nichts auf ihre vielen falschen Anschuldigungen.
Zum 1. Mal näherten sich 2 Aussagen einer gewissen Übereinstimmung, als 2 Männer bezeugten, sie hätten Jesus während einer seiner Tempelreden sagen hören, er könne „diesen von Menschenhand erbauten Tempel zerstören und innerhalb dreier Tage einen nicht von Menschenhand gebauten errichten“. Das war nicht genau das, was Jesus gesagt hatte, abgesehen davon, dass er auf seinen eigenen Körper gedeutet hatte, als er die betreffende Äußerung gemacht hatte. Obwohl der Hohepriester Jesus anschrie: „Antwortest du auf keine dieser Anklagen?“, öffnete Jesus seinen Mund nicht. Er stand schweigend da, während all diese falschen Zeugen gegen ihn aussagten. Die Worte dieser Meineidigen waren so sehr von Hass, Fanatismus und skrupelloser Übertreibung gekennzeichnet, dass die Zeugnisse wegen ihrer Ungereimtheiten in sich selber zusammenfielen. Die beste Widerlegung ihrer falschen Anschuldigungen war das ruhige und erhabene Schweigen des Meisters.
Hannas traf kurz nach Beginn der Anhörung der falschen Zeugen ein und nahm an Kajaphas’ Seite Platz. Jetzt erhob er sich und argumentierte, dass diese Drohungen Jesu, den Tempel zu zerstören, genüge, um gegen ihn in 3 Punkten Anklage zu erheben: 1. Dass er ein gefährlicher Volksverführer sei. Dass er das Volk unmögliche Dinge lehre und es auf andere Weise täusche. 2. Dass er ein fanatischer Revolutionär sei, weil er zur Gewalt gegen den heiligen Tempel aufrufe; denn wie anders könnte er ihn zerstören? 3. Dass er Magie lehre, wenn er verspreche, einen neuen, nicht von Menschenhand gebauten Tempel zu errichten.
Schon war sich der gesamte Sanhedrin darin einig geworden, dass Jesus sich Übertretungen des jüdischen Gesetzes habe zuschulden kommen lassen, die den Tod verdienten, aber ihre Hauptsorge war jetzt eher, Anklagepunkte auszuarbeiten, die sein Verhalten und seine Lehren betrafen und die Fällung eines Todesurteils gegen ihren Gefangenen durch Pilatus rechtfertigen würden. Sie waren sich bewusst, dass sie sich das Einverständnis des römischen Statthalters sichern mussten, bevor Jesus gesetzmäßig hingerichtet werden konnte. Hannas war geneigt, eine Linie zu verfolgen, die den Anschein erwecken sollte, als sei Jesus ein gefährlicher Lehrer, der nicht unter den Leuten gelassen werden durfte.
Aber Kajaphas konnte den Anblick des Meisters, der in vollendeter Selbstbeherrschung und in ungebrochenem Schweigen dastand, nicht länger ertragen. Er dachte, wenigstens ein Mittel zu kennen, um den Gefangenen zum Sprechen zu bringen. Und so stürzte er auf Jesus zu, schüttelte vor des Meisters Angesicht einen anklagenden Drohfinger und sagte: „Im Namen des lebendigen Gottes beschwöre ich dich, uns zu sagen, ob du der Befreier, der Sohn Gottes, bist.“ Jesus antwortete Kajaphas: „Ich bin’s. In Kürze gehe ich zum Vater, und alsbald wird der Menschensohn mit Macht ausgestattet sein und wieder über die himmlischen Heerscharen gebieten.“ Als der Hohepriester Jesus diese Worte sprechen hörte, geriet er außer sich vor Zorn und schrieb, indem er sein Übergewand zerriss: „Was brauchen wir jetzt noch weitere Zeugen? Seht, jetzt habt ihr alle die Gotteslästerung dieses Mannes gehört. Was soll eurer Meinung nach mit diesem Gesetzesbrecher und Gotteslästerer geschehen?“ Und sie alle antworteten wie aus einem Munde: „Er hat den Tod verdient; lasst ihn kreuzigen.“
Jesus hatte sich für keine Frage interessiert, die Hannas oder die Sanhedristen ihm stellten außer jener, die sich auf seine Mission der Selbsthingabe bezog. Auf die Frage, ob er der Sohn Gottes sei, antwortete er sogleich und unzweideutig mit Ja.
Hannas wünschte, dass der Prozess weitergehe und dass eindeutige Anklagepunkte bezüglich Jesu Haltung gegenüber römischem Gesetz und römischen Institutionen formuliert würden, um sie dann Pilatus vorzulegen. Die Ratsmitglieder waren darauf bedacht, diese Angelegenheit zu einem raschen Ende zu bringen, nicht nur, weil es der Vorbereitungstag für das Passahfest war und nach der Mittagsstunde keine weltliche Arbeit getan werden durfte, sondern auch aus Furcht, Pilatus könnte sich jederzeit nach Caesarea, der römischen Hauptstadt von Judäa, zurückgeben; denn er hielt sich nur gerade für die Passahfeierlichkeiten in Jerusalem auf.
Aber es gelang Hannas nicht, den Gerichtshof unter Kontrolle zu behalten. Nachdem Jesus Kajaphas auf so unerwartete Art geantwortet hatte, trat der Hohepriester vor und schlug ihm mit der Hand ins Gesicht. Hannas war richtig schockiert, als die übrigen Gerichtsmitglieder beim Verlassen des Raums Jesus ins Gesicht spuckten und viele von ihnen ihn voller Hohn mit der flachen Hand schlugen. Und so ging diese erste Sitzung im Prozess der Sanhedristen gegen Jesus um ½ 5 in Unordnung und nie da gewesener Verwirrung zu Ende.
30 voreingenommene und durch die Tradition verblendete falsche Richter mit ihren falschen Zeugen maßen sich an, über den gerechten Schöpfer eines Universums zu Gericht zu sitzen. Und diese leidenschaftlichen Ankläger geraten angesichts des majestätischen Schweigens und der großartigen Haltung dieses Gottmenschen in Wut. Sein Schweigen ist unerträglich, und sein Reden ist eine unerschrockene Herausforderung. Ihre Drohungen lassen ihn unberührt und ihre Angriffe schüchtern ihn nicht ein. Die Menschen sitzen über Gott zu Gericht, aber auch dann noch liebt er sie und möchte sie retten, wenn er könnte.
4. DIE STUNDE DER ERNIEDRIGUNG
Das jüdische Gesetz verlangte, dass das Gericht bei Verhängung der Todesstrafe zweimal zusammenzutreten hatte. Die 2. Sitzung musste am Tag nach der ersten abgehalten werden, und die Zwischenzeit hatten die Mitglieder des Gerichtshofs mit Fasten und Trauern zu verbringen. Aber diese Männer mochten nicht bis zum nächsten Tag warten, um ihren Entschluss zu bestätigen, Jesus müsse sterben. Sie warteten nur eine Stunde. In der Zwischenzeit ließen sie Jesus im Audienzsaal im Gewahrsam der Tempelwächter, die sich zusammen mit den Dienern des Hohenpriesters damit vergnügten, Demütigung über Demütigung auf den Menschensohn zu häufen. Sie verlachten ihn, bespuckten ihn und stießen ihn grausam herum. Sie schlugen ihm mit einer Rute ins Gesicht und sagten dann: „Du, der Befreier, prophezeie uns, wer dich geschlagen hat.“ Und so trieben sie es eine volle Stunde lang, indem sie diesen Mann aus Galiläa, der keinen Widerstand leistet, verhöhnten und misshandelten.
Während dieser tragischen Stunde des Leidens und unerträglicher Verspottung durch die unwissenden und gefühllosen Wächter und Diener wartete Johannes Zebedäus in einsamem entsetzen in einem Nebenraum. Als die Misshandlungen begannen, gab Jesus Johannes mit einem Kopfnicken zu verstehen, er solle sich zurückziehen. Der Meister wusste sehr wohl, dass, erlaubte er seinem Apostel, im Raum zu bleiben und Zeuge der Abscheulichkeiten zu werden, dieser innerlich so aufgewühlt würde, dass es zu einem Ausbruch empörten Protestes käme, der wahrscheinlich seinen Tod zur Folge hätte.
Diese ganze entsetzliche Stunde hindurch sagte Jesus kein Wort. Für diese sanftmütige und empfindsame menschliche Seele, die in persönlicher Verbindung mit dem Gott des ganzen Universums stand, war kein Schluck aus dem Kelch seiner Demütigung bitterer als diese furchtbare Stunde des Ausgeliefertseins an die unwissenden und grausamen Wächter und Diener, welche das Beispiel der Mitglieder dieses so genannten Gerichts aus Sanhedristen dazu ermuntert hatte, ihn zu misshandeln.
Es ist unmöglich, dass ein menschliches Herz sich den Schauder der Entrüstung vorstellen kann, der ein riesiges Universum durchlief, als sich den himmlischen Intelligenzen dieser Anblick ihres geliebten Herrschers bot, der sich dem Willen seiner unwissenden und irregeleiteten Geschöpfe auf dem durch die Sünde verdunkelten, unglücklichen Erdball Urantia unterwarf.
Was ist das für ein tierischer Wesenszug des Menschen, der ihn veranlasst, das beleidigen und physisch angreifen zu wollen, was er geistig nicht erreichen und intellektuell nicht vollbringen kann? Im halbzivilisierten Menschen lauert immer noch eine böse Brutalität, die sich an denen abzureagieren sucht, die ihm an Weisheit und Geistigkeit überlegen sind. Seht euch die böse Rohheit und brutale Grausamkeit dieser angeblich zivilisierten Menschen an, die eine gewisse Art tierischer Freude an ihren physischen Angriffen auf den widerstandslosen Menschensohn fanden. Als diese Beleidigungen, Spöttereien und Schlägen auf Jesus niedergingen, wehrte er sich nicht, aber er war nicht wehrlos. Jesus war nicht besiegt, er kämpfte nur nicht im materiellen Sinne. Das sind die Augenblicke der größten Siege des Meisters in seinem langen und ereignisreichen Werdegang als Schöpfer, Erhalter und Erlöser eines sich ins Unermessliche dehnende Universums. Jesus hat bis ins kleinste ein Leben gelebt, das den Menschen Gott offenbart, und unternimmt es jetzt, Gott eine neue und beispiellose Offenbarung des Menschen zu geben. Jesus offenbart den Welten jetzt den endgültigen Triumph über alle Ängste, die aus der Isolation der Geschöpfespersönlichkeit erwachsen. Der Menschensohn hat seine Identität mit dem Gottessohn endgültig verwirklicht. Jesus zögert nicht zu erklären, er und der Vater seinen eins. Und aufgrund der Tatsache und Wahrheit dieser höchsten und göttlichen Erfahrung ruft er jeden auf, der an das Königreich glaubt, mit ihm eins zu werden, wie er und sein Vater eins sind. Die lebendige Erfahrung in der Religion Jesu wird damit zur sicheren und verbürgten Methode, durch welche die geistig abgetrennten und kosmisch einsamen Sterblichen der Erde in die Lage versetzt werden, der Isolation der Persönlichkeit samt allen damit verbundenen Ängsten und verwandten Gefühlen der Hilflosigkeit zu entrinnen. In den brüderlichen Realitäten des Königreichs des Himmels finden die Glaubenssöhne Gottes sowohl persönlich wie planetarisch endgültige Erlösung von der Isolation des Selbst. Der Gläubige, der Gott kennt, macht in wachsendem Maße die Erfahrung der Ekstase und Größe der geistigen Sozialisierung im universellen Maßstab – der himmlischen Staatsbürgerschaft verbunden mit der ewigen Verwirklichung der göttlichen Bestimmung, Vollkommenheit zu erreichen.
5. DIE ZWEITE SITZUNG DES GERICHTS
Um ½ 6 Uhr versammelte sich das Gericht von neuem, und Jesus wurde in den Nebenraum geführt, wo Johannes wartete. Hier bewachten der römische Soldat und die Tempelwächter Jesus, während das Gericht mit der Formulierung der Anklagepunkte begann, die man Pilatus vorlegen wollte. Hannas machte seinen Kollegen klar, dass der Vorwurf der Gotteslästerung bei Pilatus kein Gewicht haben würde. Judas war während dieser 2. Ratssitzung zugegeben, machte aber keine Aussage.
Die Sitzung des Gerichts dauerte nicht länger als ½ Stunde, und als sie sie aufhoben, um vor Pilatus zu gehen, hatten sie eine Anklage gegen Jesus in 3 Punkten abgefasst, für welcher er den Tod verdiene: 1. Er verderbe die jüdische Nation; er täusche das Volk und stachle es zur Rebellion an. 2. Erlehre das Volk, die Zahlung des Tributs an Cäsar zu verweigern. 3. Indem er von sich behauptet, ein König und Begründer einer neuen Art von Königreich zu sein, sporne er zum Verrat am Kaiser an.
Diese ganze Prozedur war irregulär und gänzlich wider die jüdischen Gesetze: Keine 2 Zeugen waren sich in irgendetwas einig mit Ausnahme derjenigen, die bezüglich Jesu Erklärung aussagten, er werde den Tempel zerstören und ihn in 3 Tagen wieder aufbauen. Und auch was diesen Punkt anbelangt, sprachen keine Zeugen für die Verteidigung, noch wurde Jesus aufgefordert zu erklären, was er damit gemeint habe.
Der einzige Anklagepunkt, aufgrund dessen das Gericht ihn folgerichtig hätte verurteilen können, war derjenige der Gotteslästerung, und dieser hätte ausschließlich auf seinem eigenen Zeugnis beruht. Sogar im Punkt der Gotteslästerung unterließen sie es, in aller Form über das Todesurteil abzustimmen.
Und nun maßten sie sich an, 3 Beschuldigungen zu formulieren und damit vor Pilatus zu treten, zu denen keine Zeugen angehört worden waren und über die sie sich in Abwesenheit des angeklagten Gefangenen geeinigt hatten. Nachdem das geschehen war, verabschiedeten sich 3 der Pharisäer; sie wünschten zwar Jesu Beseitigung, aber sie wollten gegen ihn keine Anklagen ohne Zeugen und in seiner Abwesenheit erheben.
Jesus erschien nicht wieder vor dem Gericht der Sanhedristen. Die wollten sein Gesicht nicht noch einmal sehen, während sie über sein unschuldiges Leben zu Gericht saßen. Jesus (als Mensch) erfuhr von ihren offiziellen Anklagen erst, als Pilatus sie verlas.
Während Jesus mit Johannes und den Wächtern im Nebenraum war und das Gericht zum 2. Mal beriet, kamen einige Frauen aus dem Palast des Hohenpriesters mit ihren Freundinnen, um sich den seltsamen Häftling anzusehen; und eine von ihnen fragte ihn: „Bist du der Messias, der Sohn Gottes?“ Und Jesus antwortete: „Wenn ich es dir sage, wirst du mir nicht glauben; und wenn ich dich frage, wirst du nicht antworten.“
An diesem Morgen um 6 Uhr wurde Jesus vom Hause des Kajaphas weggeführt, um vor Pilatus zur Bestätigung des Todesurteils zu erscheinen, welches das Gericht der Sanhedristen in so ungerechter und regelwidriger Weise über ihn gefällt hatte. |