Tor zu den Sternen

Die ägyptischen Pyramiden stehen nicht planlos in der Wüste, sondern bilden eine gigantische Himmelskarte mit dem Sternbild Orion im Zentrum. Das ist das Ergebnis neuester Forschungen. Die Cheops-Pyramide war demnach Mittelpunkt einer Sternenreligion um die „Wiedergeburt" des Gottes Osiris

Von Ulrich Arndt

Möglicherweise ist das Geheimnis der Pyramiden von Gizeh jetzt - zumindest in wesentlichen Teilen - enträtselt: Nicht wahllos, sondern nach einem gigantischen einheitlichen Plan der ägyptischen Priester sollen die Pyramiden der 4. und 5. Dynastie (ca. 2650-2150 v. Chr.) ins Nildelta gesetzt worden sein. Auch den Zweck der berühmtesten aller Pyramiden, der des Cheops in Gizeh, und den Ablauf der religiösen Rituale in ihr glauben Robert Bauval und Adrian Gilbert in ihrem Buch „Das Geheimnis des Orion" (List-Verlag 1994) treffend rekonstruiert zu haben.

Die Hobby-Archäologen und Kenner des alten Ägypten, Ingenieur Robert Bauval (links im Bild) und Verleger Adrian Gilbert

Den Schlüssel für diese neuen und bisher umfassendsten Hypothesen zum Rätsel der Pyramiden lieferte dem in Ägypten geborenen Ingenieur Bauval und seinem Koautor und Verleger Gilbert die Astronomie. Nicht ohne Grund, denn die Priester im alten Ägypten waren bekanntermaßen zugleich hervorragende Astronomen. Zudem wurde jedes Ereignis der Geschichte in der ägyptischen Religion als Wiederholung eines mythischen Ereignisses aus der Zeit der Götter betrachtet, darüber sind sich Ägyptologen und Religionshistoriker einig.

Mit Hilfe eines Astronomie-Computerprogramms rekonstruierte Bauval den Nachthimmel vor rund 4500 Jahren zur Zeit des Baus der Cheops-Pyramide. Seine erste faszinierende Entdeckung dabei: Die Anordnung der Pyramiden von Gizeh stimmt verblüffend genau mit den Positionen der Sterne im Sternbild Orion überein. Dabei spiegeln nach seinen Berechnungen die Cheops-, Chephren- und Mykerinos-Pyramide in ihrer Anordnung die Sterne im sogenannten „Gürtel des Orion" wider. Darüber hinaus sollen die verschiedenen Dimensionen der Bauwerke der unterschiedlichen Leuchtkraft der Himmelskörper entsprechen.

Durch Vergleiche mit Sternenkarten glaubt Bauval, mittlerweile für fast alle Sterne des Orion sowie weitere die passenden Pyramiden als irdische „Platzhalter" gefunden zu haben. Darüber hinaus wurde der Nil von den Ägyptern schon immer mit dem mythischen „Okeanos", der Milchstraße, identifiziert. Das gesamte ägyptische Kernland mit seinen scheinbar chaotisch in der Wüste angeordneten Bauwerken erscheint so als eine überdimensionale Karte des Sternenhimmels. Doch zu welchem Zweck sollte solch ein gigantischer Plan über fast 500 Jahre hinweg verfolgt worden sein?

Computer beweist die stellare Ausrichtung

Der Schlüssel dazu ist nach Bauvals Forschungen in den kultischen Vorstellungen der alten Ägypter und in dem letzten erhaltenen Weltwunder der Antike zu finden - in der Cheops-Pyramide: Sie soll für den verstorbenen Pharao die Eingangspforte in den Himmel gewesen sein, damit seine Seele nach altägyptischem Glauben als Stern wiedergeboren werden kann. Hinweise hierfür fand Privatforscher Bauval zum einen in den ältesten ägyptischen Schriftzeugnissen, den sogenannten „Pyramiden-Texten". Zum anderen liege die besondere Rolle, die der Cheops-Pyramide zukomme, in den einmaligen, bisher im letzten ungeklärten Besonderheiten dieses Bauwerks begründet - nämlich in den sogenannten vier „Lüftungsschächten" der beiden großen Kammern im Inneren. „Einer Lüftung dienten diese Schächte ganz sicher nicht. Zudem haben sie keinerlei konstruktiven Sinn", bestätigt der deutsche Archäotechniker Rudolf Gantenbrink. Erst jüngst hatte er mit Hilfe eines Miniroboters den Neigungswinkel dieser nur 20 Zentimeter breiten quadratischen Schächte exakt vermessen.

 

Diese Tür mitten in der Cheops-Pyramide entdeckte Archäotechniker Rudolf Gantenbrink mit einem kamerabestückten Miniroboter

 Bauval prüfte mit Hilfe des Computers, ob es Sterne gäbe, auf die diese Schächte vor 4500 Jahren ausgerichtet worden sein könnten. Das Ergebnis: Die Schächte fixieren eine ganz bestimmte Sternenkonstellation um den Gürtelstern „Al Nitak" des Orion und den Stern Sirius. Orion und Sirius aber spielten in der ägyptischen Religion eine sehr bedeutende Rolle. Das Sternbild Orion wurde mit dem Gott Osiris und der Sirius mit der Göttin Isis gleichgesetzt. Die mythische Geschichte von Isis und Osiris ist die älteste Auferstehungslegende der Welt und eines der wichtigsten Themen der altägyptischen Religion. Sie erzählt, daß Osiris von seinem Bruder ermordet und zerstückelt wurde. Isis suchte die Teile wieder zusammen; durch ihre Liebe wurde Osiris wiederbelebt, und gemeinsam zeugten sie Horus, den vielfach dargestellten falkenköpfigen Gott der alten Ägypter.
Diese Legende soll nach Bauvals Überzeugung ihre Vorlage in dem charakteristischen Himmelslauf des Orion/Osiris und Sirius/Isis haben. Kampf, Tod und Wiedergeburt des Osiris hätten ihr Vorbild im Verschwinden des Sternbilds bzw. einzelner Sterne hinter dem Horizont und in seiner komplizierten Wanderung über den Himmel.

Sternenlauf als Vorlage für „heilige Fristen"

So gewagt diese These auf den ersten Blick erscheint, sind mit ihr doch verblüffende Deutungen bisher unerklärlicher Details in der altägyptischen Religion möglich. Zum Beispiel stimmen die Zeitspannen, die das Sternbild Orion für den Durchgang durch die einzelnen Phasen seines Himmelslaufes benötigt, überraschend genau mit „heiligen Fristen" überein. Die bisher logisch nicht erklärbare Zeitspanne des 70 Tage währenden Einbalsamierungsrituals findet hier ebenso ihre Entsprechung wie die „göttliche Schwangerschaft" der Himmelsgöttin Nut von 280 Tagen (was der durchschnittlichen menschlichen Schwangerschaft von etwa neun Monaten entspricht), nach der die Seele des Osiris als Stern wiedergeboren wird.

In der Epoche, die der Pyramidenzeit unmittelbar vorausging, zeigte sich dieser eigentümliche Himmelslauf des Orion in einer ganz besonderen, für die Menschen der damaligen Zeit sicherlich spektakulären Konstellation mit dem Sirius/Isis: Nach einer Phase, in der Sirius hinter dem Horizont verborgen war, fiel sein Aufgang am Nachthimmel mit der Sommersonnenwende und zugleich mit dem Einsetzen der Nilüberschwemmung zusammen. Dieser Zeitpunkt war zudem der Beginn des neuen Jahres und bildete die Grundlage der kalendarischen Berechnungen im alten Ägypten. Auf dieser Verbindung von „himmlischen Zeichen" und lebenswichtigen irdischen Ereignissen aber beruhen nach den Forschungen von Bauval und Gilbert zahlreiche kultische Vorstellungen. Und eben dieser außergewöhnliche Zeitpunkt wurde im Bauwerk der Cheops-Pyramide durch die besonderen Neigungswinkel der Schächte, die diese Sternenkonstellation anpeilen, für immer festgehalten.

 

Die Pyramiden von Gizeh. Als Bauval sie von oben sah, erkannte er, daß ihre Anordnung den Gürtelsternen des Orion (Bild re.) entspricht

 

Die Helligkeit der Sterne des Oriongürtels wurde von den Pyramidenerbauern als unterschiedliche Höhen der Bauwerke wiedergegeben

Wozu aber könnte eine solch gewaltige „Peilstation" praktisch gedient haben? Sehr viele Buchautoren haben über den Zweck dieser Pyramide bereits Thesen aufgestellt. Die entsprechende Literatur füllt ganze Regale. Nach den Untersuchungen von Bauval und Gilbert soll in der Cheops-Pyramide ein Fruchtbarkeits- und Auferstehungskult vollzogen worden sein - und dies vermutlich nicht nur einmal. So habe in der sogenannten Königinkammer die Zeremonie der Mundöffnung stattgefunden, wie sie unter anderem im altägyptischen „Totenbuch" beschrieben ist. Wahrscheinlich wurde hier auch eine Art „rituelle Inszenierung der stellaren Paarung zwischen Orion und Sirius - also die symbolische Zeugung des Gottes Horus - vollzogen, wie sie in der Osiris-Isis-Legende geschildert wird. Damit bei dieser Zeremonie die Kräfte der Sternen-Götter anwesend sein konnten, sollen die Schächte der Pyramide angelegt und auf die beschriebene Konstellation am Nachthimmel ausgerichtet worden sein.
Nach diesen Riten sei die Mumie dann durch die .Große Halle" in die „Königinkammer" getragen worden. Hier habe die Zeremonie des „Wiegens der Herzen" stattgefunden, und die Seele des Pharao sei durch einen der dortigen Schächte als neuer Stern zum Himmel hinaufgefahren.

Geheimnisvolle Tür in der Cheops-Pyramide

Aufgrund ihrer Nachforschungen konnten die Autoren auch gezielte Hinweise auf originale Beigaben aus der Cheops-Pyramide geben, die völlig in Vergessenheit geraten waren. Zwei Objekte aus einem Schacht zur sogenannten Königinkammer wurden daraufhin im Fundus des „Britischen Museums' in London als diese Originale erkannt: eine kleine Steinkugel und ein gebogener metallener Haken. Nach Bauvals Vermutung fanden sie bei einem Ritus des symbolischen „Wiegens der Herzen" und bei der Mundöffnung des einbalsamierten Pharao, damit die Seele entweichen konnte, Verwendung.
Wer aber hatte für diese religiösen Zeremonien solch gewaltige Bauwerke und ihre Anordnung nach der „Sternenvorlage" entworfen? Die ägyptischen Mythen nennen den Weisheitsgott „Thot" selbst als Erbauer oder zumindest als Konstrukteur der Bauwerke. Zudem soll dies bereits in der „ersten Zeit` des Osiris geschehen sein. Auch für diese Zeitangabe meint Bauval eine Deutung gefunden zu haben: Aufgrund des Kreisens unserer Erdachse - Präzession genannt - wandern die Sternbilder in etwa 25 800 Jahren (was einem „platonischen Jahr" entspricht) einmal um den Pol der Ekliptik. Die „erste Zeit" des Orion/Osiris, also der niedrigste Punkt, von dem das mit dem Gott gleichgesetzte Sternbild diesen jahrtausendelangen Zyklus begann, fiel in die Zeit zwischen 10 450 und 10 400 v.Chr. Zum ersten Mal erschien hier nach Bauvals Berechnungen auch die typische Sternenkonstellation, die die Pyramiden auf der Erde nachstellen sollen.

 

Das Sternbild Orion wurde nach der ägyptischen Mythologie mit dem Gott Osiris identifiziert, der Stern Sirius mit Isis

 Bereits vor 50 Jahren hatte ein ganz anderer „Kundiger" die Aufmerksamkeit auf die Zeit um 10.400 v.Chr. gelenkt - der berühmte amerikanische Hellseher Edgar Cayce. Er behauptete, daß die Cheops-Pyramide - zumindest in ihrem Entwurf - bereits in dieser Zeit in Angriff genommen worden sei. Zur Zeit nähert sich das Sternbild langsam seinem höchsten Stand während seines jahrtausendelangen Zyklus am nächtlichen Himmel. Jetzt aber sei nach Cayce auch der Zeitpunkt, an dem die letzten Geheimnisse der Pyramide gelüftet würden: In einer „verborgenen Kammer" in der Pyramide sollen die sagenumwobenen Bücher des Weisheitsgottes Thot und die verlorengegangenen Berichte über Atlantis wiedergefunden werden. Tatsächlich entdeckte vor kurzem der Archäotechniker Gantenbrink - als er einen selbstfahrenden Roboter mit Videokamera in die Schächte der Kammern klettern ließ - am Ende des südlichen Schachtes der „Königinkammer" eine Art Steintür. Gibt es also die von Cayce beschriebene Kammer tatsächlich, und birgt sie womöglich das Wissen der ersten Pyramidenbauer? Zur Zeit werden die Möglichkeiten, wie diese Tür geöffnet werden und ob sich dahinter wirklich ein Raum befinden könnte, von Gantenbrink und anderen Archäologen geprüft. Nach Cayces Vision vor 50 Jahren bliebe dafür nicht mehr viel Zeit, denn noch in unserem Jahrhundert soll das Geheimnis der Pyramiden endgültig gelüftet werden.