Engel Abigail
Abigail antwortete eines Tages auf ein Inserat im „Engel-Anzeiger“. ENGEL GESUCHT! Nun, Abigail war schon einmal auf der Erde gewesen, genau zwei irdische Tage lang. Und so hoffte sie, das sei Qualifikation genug für den Job. Vor dem eigentlichen Bewerbungsgespräch saß sie im Wartezimmer zusammen mit anderen Engelbewerbern, die alle viel älter waren als sie selbst, und lauschte deren Erzählungen über ihre unterschiedlichen Inkarnations-Erlebnisse auf dem Planeten Erde. Was sie zu hören bekam, ließ ihren Wunsch nur noch umso größer werden, sie wollte unbedingt auch dorthin.. „Zuerst einmal musst du eine Liste anfertigen mit all den Erfahrungen, die du auf der Erde gewillt bist zu machen, und das muss sorgfältig geplant sein. Vergiss nicht, je härter die Erfahrung ist, desto schneller verläuft dein persönliches Wachstum“, fuhr er dann fort.
„Abigail, beim letzten Mal bist du nur als Ersatzspieler für jemand anderen eingesprungen, und das auch nur für ganze zwei Tage, und du hast es verabscheut! Wieso also jetzt? Weißt du nicht mehr, als du zurückkamst, wie schrecklich du das alles gefunden hast? Weißt du noch, wie du geschworen hast, du würdest so etwas niemals wieder tun?“ fragte der Personalchef. „Ich weiß, Sir, aber es fühlt sich so an, als müsste ich es einfach tun, damit ich mehr Erfahrungen sammeln kann und schneller weiterkomme auf meiner Evolutions-Spirale. Ich meine, sehen Sie mich doch an, Sir – ich bin immer noch winzig, und dabei bin ich doch schon so lange hier! Ja natürlich weiß ich, dass es auch andere Möglichkeiten zum Wachstum gibt – aber die sind alle so furchtbar langsam! Bitte nehmen Sie mich, Sir! Ich werde mich selbst bestimmt nicht enttäuschen, wenn Sie es tun!“ beteuerte Abigail ernsthaft. „Abigail, du weißt, wie schwer es mir schon immer gefallen ist, dir etwas abzuschlagen. Also gut, geh und stelle deine Liste zusammen und mache einen Termin mit deinem Laufbahnberater! Ich rufe ihn an und sage ihm, dass ich einverstanden bin“, gab der Personalchef schließlich nach. „Vielen Dank, Sir! Ich verspreche Ihnen, sie werden stolz auf mich sein können. Vielen Dank, dass Sie mir die Chance geben, Sir! Ach, und würden Sie bitte dem Schöpfer ausrichten, dass ich mich auch bei Ihm bedanke, Sir?“ Und damit schickte Abigail sich an, den himmlischen Verwaltungstrakt wieder zu verlassen. „Ich werde es dem Schöpfer ausrichten, Abigail, aber ich bin nicht ganz sicher, ob es wirklich das ist, was der Schöpfer für dich im Sinn hatte, als er dich ins Sein hauchte. Die Blaupause, die er dir mitgab, sieht eigentlich keine solchen Aktivitäten für dich vor!“ Die Stimme des Personalchefs klang ein wenig betrübt, als er das sagte. „Ich weiß, Sir“, sagte Abigail bittend, „aber dies ist es, was ich wirklich ausprobieren will!“ Und damit verschwand sie endgültig.
Abigail arbeitete und schuftete, bis sie endlich ihre Liste mit den Erfahrungen zusammengestellt hatte, die sie für ihr eigenes Wachstum zu durchleben gewillt war. Sie war ganz tief in sich hineingegangen und hatte dort dieses unbändige Verlangen, diese unstillbare Absicht zu wachsen gefunden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgend etwas sie davon abhalten könnte, die nächsten Schritte auf ihrer Entwicklungsspirale zu tun – alles würde sie auf sich nehmen, wenn sie nur endlich wuchs! Neben jedem Ereignis auf der Liste hatte sie sorgfältig vermerkt, welche Mitspieler sie jeweils für die erforderlichen Rollen brauchen würde und mit wem sie einen Vertrag darüber abschließen musste. Dann meldete Abigail sich im Büro ihres *Engel-Laufbahnberaters*. Sie präsentierte ihrem Berater sowohl die Liste mit den geplanten Erlebnissen als auch die Auflistung aller erforderlichen Mitspieler. Der *Engelberater* vertiefte sich in die Liste und las sie aufmerksam durch. Dann hob er den Kopf und musterte den winzigen Engel nachdenklich. „Abigail, deine Liste hat es aber ordentlich in sich! Und du bist absolut sicher, dass du wirklich durch all diese Schrecken, alle die Tränen und die Trauer und die Verzweiflung hindurch willst, nur damit du schneller wächst? Du weißt, es gibt auch andere Möglichkeiten zu wachsen – wir sprechen ja nicht zum ersten Mal darüber!“
„Ich verstehe“, sagte der *Berater-Engel*, „schließlich war auch ich einmal ein kleiner Engel. Du erinnerst dich aber noch an deine letzte Erfahrung, nicht wahr?“ setzte er seine Befragung fort. „Ja“, gab Abigail zu, „aber dies hier ist wirklich wichtig für mich. Bitte helfen Sie mir dabei, damit ich das tun kann!“ „Abigail, ich werde dir helfen, so gut ich irgend kann. Nur – für uns hier wird es sehr schwer sein mit anzusehen, wie du durch diese Liste der Schrecken gehst, die du dir da ausgearbeitet hast!“ stellte der *Engelberater* fest. Und er mahnte noch einmal zur Vorsicht: „Wenn du erst auf der Erde bist, dann bist du an den Vertrag gebunden und musst wirklich da hindurch, denn ein Zurück gibt es dann nicht mehr. Hast du das auch wirklich gut verstanden?“ „Und du weißt auch, dass es noch eine alternative Möglichkeit gibt, nicht wahr, Abigail? Du könntest zum Beispiel für jemand anderen ein Schutzengel sein. Auch das würde dir die Gelegenheit zum Wachstum und zu irdischen Erfahrungen geben!“ wandte der Engelberater noch einmal ein. „Weiß ich“, sagte Abigail. „Okay. Dann geh und sammele deine Mitspieler ein und sag ihnen, sie sollen einen Termin bei mir machen!“ Der *Berater-Engel* musste sich seine Zustimmung förmlich abringen. „Da wäre noch eine Sache, Abigail“, hielt der *Berater-Engel* den kleinen Engel noch zurück. „Ich selbst werde mich freiwillig als einer deiner Schutzengel melden. Zumindest kann ich dir dann die Liebe schicken, die du so sehr verdienst, selbst wenn du dich weder an dieses Gefühl noch an mich erinnern kannst, solange du dort bist! Abigail – dir ist doch klar, wie schwer es uns fallen wird, mir und all denen, die du ausgewählt hast, das alles mit anzusehen …?“ Abigail schaute ihrem Engelberater in die Augen. „Ja. Dass Du bei mir sein wirst dort, das bedeutet mir sehr viel. Ich weiß, es wird mir helfen. Danke!“
„Abigail, die Materie ist so dicht auf der Erde und deine Erinnerung wird vollkommen vor dir verborgen sein, wie hinter einem dichten Schleier, aber ich versichere dir, ich werde tun, was immer in meiner Macht steht, damit du dich erinnerst!“ versprach der *Berater-Engel* noch. Alle geplanten Mitspieler fanden sich nach und nach im Büro des *Berater-Engels* ein und erklärten sich traurig mit den ihnen zugedachten Rollen einverstanden. Sie alle hofften immer noch, Abigail würde ihre Meinung noch ändern und mindestens die Hälfte von ihrer Erfahrungsliste streichen. Niemand wollte wirklich die für ihn vorgesehene Rolle spielen, sie alle redeten fieberhaft auf Abigail ein und versuchten, sie davon abzubringen. Keiner von ihnen war sich sicher, ob Abigail überhaupt ahnte, zu was sie sich da verpflichtete. Aber weil sie den kleinen Engel alle so sehr liebten, stimmten sie schließlich schweren Herzens zu. Die Rollen, die die meisten von ihnen zu spielen hatten, waren abscheulich und gemein, und niemand wollte das eigentlich. Aber sie verstanden Abigails Sehnsucht nach Wachstum, und daher akzeptierten sie es schließlich in bedingungsloser Liebe. Abigail nahm mit ihrer künftigen irdischen Mutter über deren spirituelles Selbst Kontakt auf. Ein Geburtsvertrag wurde geschlossen und das irdische Datum dafür festgesetzt. Die spirituellen Essenzen aller bereits auf der Erde befindlichen Mitspieler wurden ebenso kontaktiert und unter Vertrag genommen. Der Zeitpunkt für Abigails Abstieg in die Materie war gekommen. Ein letztes Mal verhandelten alle mit Abigail und flehten, sie möge ihnen doch den Vertrag erlassen – aber es nützte nicht das Geringste. Wer nicht bereits auf der Erde war, stellte sich in einer Reihe auf, um sich alle seine Erinnerungen tief verschleiern und anschließend den kleinstmöglichen Anteil seiner Essenz vom Großen Selbst abtrennen zu lassen. Und sie alle erlebten, wie dieses winzige Teilchen ihrer wahren Essenz hinaus in die Dunkelheit geschleudert wurde – es fiel und fiel und fiel und wurde dabei immer schwerer und schwerer, bis es schließlich in sein materielles Gefäß, in seinen biologischen Körper eintauchte. Abigails Schutzengel und die Schutzengel aller Mitspieler hatten bereits auf ihre Ankunft gewartet. Und so konnten ihre Erfahrungen auf der Erde beginnen.
So kam also Abigail als Kind einer an AIDS erkrankten Mutter zur Welt, und diese gab ihr nach der Geburt den Namen Mary. Mary war selbst mit dem Virus infiziert. Die Mutter nahm dieses winzigkleine, halbverhungerte Baby in die Arme, drückte es an sich und konnte einfach nur weinen. Die Mutter sah ihr noch feuchtes Neugeborenes voller Liebe an und sagte: „Weißt du, ich kann dich nicht füttern, und ich bin selbst so krank. Ich weiß nicht, was aus Dir werden soll, aber vielleicht überlebst du ja.“ Und eine Träne rollte über ihre Wange und benetzte Marys kleines, nasses Gesichtchen. Mary schrie und schrie, hungrig, nass und voller Angst. Ihre spirituelle Familie und ihre Schutzengel versammelten sich ganz dicht um sie und sandten ihr Liebe. Alle Essenzen der Höheren Selbste sahen zu und sandten ihr ebenfalls ihre Liebe. Es schien so, als würde sich Mary ein wenig beruhigen, aber das hielt nur für wenige Augenblicke vor. Dann begann sie wieder zu weinen. Soldaten hörten das Babygeschrei und traten die Kiste beiseite, unter der Marys Mutter während der Geburtswehen Schutz gesucht hatte. Die Mutter töteten sie mit einem einzigen Schuss. Das wenige Minuten alte Neugeborene packten sie an einem Beinchen, äußerten etwas wie „noch so ein Mädchen – das fehlt gerade noch“ und schleuderten es gegen eine Mauer. Marys winziger Kinderkörper wurde schlaff. Die Soldaten kümmerten sich nicht weiter darum, ob Mary tot war oder nicht und gingen weiter. Ihre spirituelle Familie und ihre Schutzengel aber schwebten ganz nah an sie heran, Marys Höheres Selbst sandte starke Strahlen der Liebe. Sie versuchten sie mitzunehmen, aber Mary klammerte sich an ihr irdisches Leben und wollte nicht loslassen. Da sandten sie ihr Liebe und weinten um sie und sandten ihr noch mehr Liebe. Eine alte Frau bog um die Ecke und als sie das Baby sah, nahm sie es auf. Sie hüllte es in ihr Schultertuch und nahm es mit. Füttern konnte sie Mary nicht, aber sie konnte sie ein paar Augenblicke lang in den Armen halten und ihr Liebe geben. Dieses arme kleine Mädchen tat ihr so unendlich leid. Es war kein Leben für Frauen in diesem Land, das von Hass überschwemmt war.
Die alte Frau brachte Mary zu einer Gruppe anderer Frauen, die um ein Lagerfeuer saßen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Eine von ihnen hatte gerade ihr eigenes Baby verloren, das sie selbst gestillt hatte. Sie nahm das schlaffe kleine Mary-Bündel auf den Arm und versuchte das Baby zu säubern, so gut sie es ohne Wasser eben vermochte. Sie begann leise zu singen und wiegte das Kleine hin und her. Mary öffnete schließlich die Augen. Die freundliche Frau schenkte ihr ein Lächeln, dann gab sie ihr die Brust und Mary schlief ein. Marys Höheres Selbst ließ sie nicht aus den Augen und schickte Liebesstrahlen hinunter, während ihre spirituelle Familie und ihre Schutzengel niemals von ihrer Seite wichen. Marys Leben verbesserte sich auch danach nicht, sondern eine schreckliche Erfahrung folgte auf die andere. Marys Höheres Selbst strahlte unermüdlich Liebe auf sie herab, und immer waren ihre Schutzengel bei ihr, genau wie ihre spirituelle Familie. Sie sandten ihr Liebe, sie verließen sie niemals. Sie besuchten sie in ihren Träumen und versuchten beständig, Marys Erinnerung wachzurufen, damit sie wieder wusste, wer sie waren und dass sie jedes einzelne ihrer schrecklichen Erlebnisse selbst geplant hatte. Mary aber fühlte sich einfach nur allein, traumatisiert und in ständiger Angst gefangen. Ihr Leben währte zwar im Verhältnis zu vielen anderen der Dorfbewohner nur kurz, 15 Jahre, aber das tat nichts zur Sache. Tag für Tag erwachte Mary und wünschte, sie wäre tot. AIDS hatte ihren Körper fast völlig zerstört. Sie hatte Hunger, sie war krank, sie fühlte sich von niemandem geliebt. Marys Höheres Selbst sah das alles und strahlte Liebe herab, ihre Schutzengel und ihre spirituelle Familie waren immer da und schickten ihr Liebe. Sie ließen nicht nach in ihren Bemühungen, den Kontakt mit ihr herzustellen, und sie bedienten sich dabei der äußersten Mittel, die das Universelle Gesetz des Freien Willens gerade noch zuließ. Aber kein Funke der Erinnerung dämmerte. Der Augenblick kam, als sie ihren letzten irdischen Atemzug tat. Marys Höheres Selbst sah zu, strahlte Liebe und freute sich auf die Wiedervereinigung, Ihre Schutzengel und ihre spirituelle Familie waren die ganze Zeit über niemals von ihrer Seite gewichen. Erst als sie ihren letzten Atemzug tat, da glomm ein Funke des Wiedererkennens in Mary auf, als nämlich ihr Schutzengel (ihr ehemaliger Berater-Engel) mit ihr sprach und ihr erklärte, was da vor sich ging und dass es Zeit sei, nach Hause zurückzukehren.
Sie lächelte und wandte ihm ihr Gesicht zu, dann begann sie mit ihm zu reden. Die paar Menschen, die sich um ihren sterbenden Körper versammelt hatten, konnten sich nicht erklären, warum sie lächelte und mit wem sie da zu sprechen versuchte. Die Engel und ihre spirituelle Familie scharten sich um ihre winzige Essenz, als diese das Gefäß der Materie verließ und die Rückreise antrat, um sich wieder mit der Hauptessenz ihres Höheren Selbsts zu vereinen. Ihr *Berater-Engel* (der ehemalige Schutzengel) erklärte ihr: „Abigail, du wirst eine Zeit der Stille und der Reflexion brauchen, um das zu verarbeiten und in dich aufzunehmen, was du während dieser Inkarnation erlebt hast. Es ist also vollkommen in Ordnung, wenn du jetzt nicht sprechen möchtest. Wir sind so überaus stolz auf dich! Du hast tatsächlich getan, was du geplant hattest und du hast dein Bestes gegeben. Du hast dir wahrlich das Wachstum verdient, nach dem du so verlangt hast auf dieser Reise!“ Abigail lächelte, sah ihren *Berater-Engel* an und sagte: „ Weißt du, während ich mitten drin war, schien es mir überhaupt nicht so traurig zu sein wie während der Rückschau, als ich es mit meinen spirituellen Augen noch einmal an mir vorbei ziehen ließ! Du hattest so Recht damals – bevor ich ging, hatte ich gar nicht richtig begriffen, wie viel Trauma ich tatsächlich für mich eingeplant hatte. Ich bin froh, dass es vorbei ist. Auf der Erde habe ich manchmal im Traum gemerkt, dass ihr versucht habt, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich habe jedes Mal versucht, einen Schritt in Eure Richtung zu tun – und dann war der Moment auch schon wieder vorbei.“ Sie sah hinüber zu all den anderen, die ihren Rollenvertrag zu ihrem Drama mit ihr abgeschlossen hatten und sagte: „Ich möchte Euch danken dafür, dass ihr das für mich getan habt! Und ich möchte, dass Ihr mir verzeiht. Ich weiß jetzt, dass ich euch gebeten habe, die Rollen eines Mörders und Vergewaltigers und aller möglichen gemeinen Wesen zu übernehmen. Ihr habt das getan, weil ihr mich liebt. Ich konnte dadurch mein Wachstum bewerkstelligen, und dafür bin ich euch allen zutiefst dankbar! Niemand nennt mich jetzt mehr *die winzige Abigail*, denn ich bin in dieser Zeit unglaublich gewachsen!“
Gechannelt von Carolyn Ann O'Riley |