DIE GESCHICHTE VOM KLEINEN SINGVOGEL

Von Tobias

Es war einmal ein kleiner Singvogel, ein wunderschöner Vogel, der die Gabe hatte, mitten aus seinem Herzen heraus zu singen. Tag und Nacht schmetterte er die allerschönsten Lieder. Sein Gesang bestand nicht so sehr aus Worten, sondern aus Schwingung und aus Melodien. Der kleine Vogel wusste beim Singen sehr genau, dass viele Menschen seine Worte sowieso nicht verstehen würden, aber Worte waren auch gar nicht so wichtig. Was sie aber fühlten, das war die Liebesschwingung, die dort tief aus der Brust des kleinen Vogels drang, durch seinen Schnabel perlte und schließlich ihr Ohr erreichte, von wo aus sie sich in ihrem gesamten Wesen ausbreitete. Der kleine Vogel liebte darum das Singen! Er sang und sang von der Herrlichkeit und der Wonne, Gott selbst zu sein. Tag für Tag verkündete er mit seinen zauberhaften Melodien die Freude, ein Teil von Gott zu sein.

Nun war sich unser kleiner Freund durchaus bewusst, dass er andere mit seinem Gesang heilen konnte, falls diese das wirklich wünschten. Und als er eines Tages fröhlich schmetternd von Baum zu Baum und von Ast zu Ast flog, da verspürte er plötzlich einen Ruf in seinem Inneren. Er fühlte ganz deutlich, dass er irgendwo gebraucht wurde. Irgendwo gab es Menschen, die sich für Heilung und Transformation entschieden hatten. Es waren Menschen, die sich festgefahren hatten und Führung brauchten. Sie brauchten Licht. Sie mussten die Stimme Gottes hören.

Der kleine Singvogel verließ also den Zweig, auf dem er gerade gesessen hatte, breitete seine Flügel aus und überließ sich dem Wind, der ihn zum rechten Ort trug. Es dauerte gar nicht lange und er ließ sich bereits im Gezweig eines Baumes nieder, der vor einem Haus stand. Aus dem Haus erklang gerade ziemlicher Streit und großer Tumult, der kleine Vogel aber setzte sich auf seinem Zweig zurecht und begann einfach zu singen. Er sang von der überwältigenden Freude, Gott zu sein.

Nun, in dem Haus lebte eine Familie, Mutter, Vater und zwei Kinder. Die Familie befand sich in gewaltigen finanziellen Nöten. Der Vater hatte große Probleme eine Arbeitsstelle zu behalten, denn sein aufbrausendes Temperament führte stets dazu, dass er sich mit seinen Kollegen anlegte. Man feuerte ihn daher alsbald wieder und er musste sich eine neue Stelle suchen. Seine Familie lebte von der Hand in den Mund, nur das Nötigste an Essen, Kleidung und Unterkunft stand ihnen zur Verfügung. Mann und Frau stritten unentwegt miteinander. Oh, im Grunde liebten sie einander sehr, und sie hatten in der Tat einen gemeinsamen Seelenvertrag abgeschlossen, dass sie dieses Leben zusammen verbringen wollten! Dennoch lagen sie sich häufig in den Haaren, denn es herrschte so viel Spannung in ihrer Familie. Die Kinder weinten oft, wenn sie das mit ansehen mussten. Es machte sie traurig, dass die Eltern ihre Liebe zueinander so wenig zum Ausdruck bringen konnten, dass sie nie gelernt hatten sich gegenseitig in die Arme zu nehmen, so wie Ihr gelernt habt, einander zu umarmen, Shaumbra!

Eins der beiden Kinder war zudem von Geburt an gelähmt und brauchte viel zusätzliche Aufmerksamkeit und besondere Fürsorge. Die speziellen Medikamente für dieses behinderte Kind waren außerdem sehr teuer, und so drückte eine weitere große Last auf die Familie. Es gab wahrlich nicht viel Freude in diesem Haushalt, aber viel Traurigkeit. Alle diese Menschen, die einst Engel gewesen waren, waren nun so tief verstrickt in ihr selbstgewähltes Leben und in ihre Rollen, die sie sich für dieses Leben ausgesucht hatten, dass sie nicht mehr heraus fanden. Längst hatten sie auch ihre Kirchenbesuche aufgegeben, denn bei all ihren vielen Schwierigkeiten konnte es keinen Gott geben, so dachten sie. Ein liebender Gott würde doch solche Widrigkeiten nicht zulassen!

Aber ganz tief im Herzen suchten alle in dieser Familie nach Hilfe, nach Heilung, nach einer Lösung. Heimlich, still und leise betete jeder von ihnen nachts zu Gott, obwohl sie doch nicht einmal daran glaubten, dass es einen Gott überhaupt gab. Aber sie taten es trotzdem und dachten dabei: „Nur so, für alle Fälle, man kann ja nie wissen! Also beten wir, dass Du uns etwas schicken mögest – ein Zeichen vielleicht, irgend etwas, ganz egal was! Schick uns irgend etwas, das uns zeigt, dass es die Liebe gibt und die Hoffnung und Heilung!“

Und genau deswegen war der kleine Vogel vom Wind direkt vor ihre Tür getragen worden.

Der kleine Vogel wusste sehr genau, was zu tun war, und so begann er aus dem tiefsten Inneren seines kleinen Wesens heraus zu singen, und er sang und sang. Er sang laut und seine Lieder waren herzergreifend schön. Frühmorgens bei Sonnenaufgang fing er an und sang und schmetterte den ganzen Tag über, bis die Sonne wieder unterging.

  Und die Familie hörte ihn. Sie liebten diesen kleinen Vogel, der da Tag für Tag zu ihnen zurückkehrte. Sie liebten seine täglichen Konzerte. Musik erfüllte ihr Haus, die Musik des kleinen Singvogels - sie konnten es fühlen. Schließlich gaben sie dem kleinen Vogel sogar einen Namen, sie nannten ihn „The Bird Of Love“. Liebesvogel. Ah, jeden Morgen konnten sie es kaum erwarten, dass er sich endlich auf dem Zweig vor ihrem Fenster niederließ und anfing zu singen!

Eines Tages saß die Familie wieder einmal einträchtig beieinander und lauschte den wunderschönen Arien des kleinen Sängers, als plötzlich eines der beiden Kinder seine Sorge zum Ausdruck brachte und sagte: „Mutter, Vater – was wird geschehen, wenn der Liebesvogel morgen auf einmal nicht mehr wiederkommt? Wenn er sich ein anderes Haus aussucht, dann könnten wir seine schönen Lieder ja gar nicht mehr hören, er wäre nicht mehr bei uns in all seiner Schönheit! Was passiert, wenn der Vogel nicht mehr wiederkommt? Unser Leben würde wieder wie früher und wir wären alle wieder so traurig wie damals, weil wir seine Freude nicht mehr hören können!“

Die Eltern waren besorgt darüber. Sie hörten, was das Kind sagte, und auch sie fürchteten sich davor, dass der Vogel sie eines Tages verlassen könnte und  nie mehr zurück käme - obwohl der kleine Vogel selbst auf einen solchen Gedanken gar nicht gekommen wäre. Und so ging der Vater an diesem Abend kurz vor Sonnenuntergang hinaus, schlich sich mit einem Netz von hinten an den Vogel heran und fing ihn ein. Der kleine Vogel leistete keinen Widerstand, denn er wusste, was da passierte. Er saß ganz ruhig im Netz und ließ sich vom Vater in das Haus tragen. Dort setzten sie ihn im Wohnzimmer in einen Käfig und schlossen die Tür. Hm.

Die Familie war entzückt, denn nun gehörte der kleine Singvogel ihnen ganz allein und konnte sie nie wieder verlassen. Oh, sie behandelten ihn sehr gut! Sie fütterten ihn mit Leckerbissen und liebten ihn über alles. Und der kleine Vogel fuhr fort von der Wonne des Gottseins zu singen. Nach einer Weile bewirkten die Energien des Vogels im Einklang mit dem heißen Wunsch der Familie nach Gesundung tatsächlich die Heilung. Die Finanzen besserten sich zusehends. Der Vater rastete nicht mehr so oft aus und behielt eine dauerhafte Arbeitsstelle. Mutter und Vater stritten nicht einmal mehr annähernd so viel wie früher. Das behinderte kleine Mädchen war zwar immer noch behindert, aber sie hatte weniger Schmerzen und entwickelte ein tiefes Verstehen für ihre Rolle, die sie sich in diesem Leben ausgesucht hatte. Oh, aus dem Haus der Familie leuchtete nun ein ganz neues, helles Licht!

Nun, der kleine Singvogel war es nicht gewöhnt in einem Käfig gehalten zu werden, denn Singvögel sind nun einmal daran gewöhnt ihre Flügel auszubreiten und zu fliegen. Außerdem wusste der kleine Vogel, dass seine Arbeit getan war. Es war an der Zeit sich vom Wind weitertragen zu lassen an einen anderen Ort und dort seine Arbeit aufzunehmen. Die Familie machte aber keine Anstalten ihn aus dem Käfig herauszulassen, denn sie hatten ihn zu ihrem Glücksbringer erkoren.

Und was nun geschah, liebe Freunde, war, dass der kleine Singvogel ganz langsam anfing zu sterben. Jeden Tag starb er ein kleines Stückchen mehr. Seine Arien waren nicht mehr so laut und so kraftvoll. Der kleine Singvogel wurde immer schwächer und mit ihm seine Lieder. Der Familie fiel das jedoch kaum auf, denn ihr Leben verlief ja gut und sie waren zufrieden. Der kleine Vogel aber wusste, er wusste, dass er im Begriff war seine innere Lebenskraft zu verlieren. Er musste unbedingt freigelassen werden.

Und so begann er ein ganz anderes Lied zu singen als sonst, mit dem er seinen Ärger und seinen Frust ausdrückte. Er sang ein Lied voller Angst und Traurigkeit. Mit der Zeit sang er immer öfter dieses Lied statt des Liebesliedes, das ihm sonst immer aus der Kehle geperlt war. Es dauerte gar nicht lange, da bemerkte die Familie, dass der Gesang des kleinen Vogels sich verändert hatte, etwas war anders geworden daran. Es lag keine Freude, kein Glücklichsein mehr in der Melodie, die der Vogel aussandte, sondern sie war traurig und unausgeglichen – es stimmte einfach nicht mehr.

Sogar der Wohlstand der Familie begann wieder zu schwinden und ihre Gesundheit ließ nach, bis eines Tages das behinderte kleine Mädchen merkte, was da vor sich ging. Das Kind begann mit den Eltern zu reden und sagte: „Der kleine Singvogel muss unbedingt freigelassen werden! Er muss heraus aus seinem Käfig, damit er wieder fliegen kann! Er muss befreit werden, sonst kann er nicht überleben. Wir müssen ihn einfach freilassen!“

Man setzte sich zur Familienkonferenz zusammen und beriet. Eine ganze Zeitlang sah es so aus, als würden sie den Vogel nicht freigeben wollen. Im Laufe ihrer Diskussion aber wurde ihnen immer klarer, dass der kleine Sänger dann nicht überleben würde. Und so trugen sie eines Morgens den Käfig ins Freie und mit großer Liebe, aber auch mit tiefer Traurigkeit öffneten sie ihrem gefiederten kleinen Freund die Tür.

Nun denkt Ihr vielleicht, dass der kleine Singvogel sich sofort in die Lüfte schwang um sich wieder dem Wind anzuvertrauen. Aber er hatte so lange im Käfig gesessen, dass es ihm kaum gelang seine Schwingen auszubreiten. Und es war sogar ein Problem für ihn, auf seinen eigenen Beinchen auf dem Boden umherzulaufen. Außerdem hatte der kleine Vogel große Angst, denn er hatte so lange in Gefangenschaft gelebt, dass er vergessen hatte, wie er sich in freier Wildbahn zu versorgen hatte. Ungeschickt hüpfte er hinüber zu dem Baum, wo er sich hinhockte. Er besaß nicht einmal mehr genügend Energie um auf die oberen Zweige zu kommen.

Nun, es dauerte eine ganze Weile, bis der kleine Vogel wieder frei fliegen konnte. Er musste viel üben und trainieren, bis seine Schwingen wieder die nötige Kraft aufgebaut hatten, und auch sein Körper musste erst wieder zu Kräften kommen. Aber dank der guten Pflege und der Liebe seiner Familie konnte der kleine Vogel bald wieder fliegen. Er breitete seine Flügel aus und ließ sich in den Wind fallen.

Und das Liebeslied des kleinen Vogels kehrte zurück, diese wunderschöne Melodie war wieder da und der Vogel war wieder frei – kein Käfig mehr, sondern endlich spürte er wieder die Freiheit des Windes unter seinen Flügeln! Endlich war er frei um da zu sein für andere, die geheilt werden wollten!

Der kleine Singvogel kehrte noch viele Male zu der Familie zurück um ihnen zu zeigen, dass er gesund war und kräftig und lebendig, aber er reiste auch an viele andere Orte.

Und so endet die Geschichte vom kleinen Singvogel.